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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain Claude Sulzer
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er meinte, und ich bin sicher, er hätte mir geantwortet, aber ich blieb stumm und wirkte vermutlich gehemmt, wodurch ich ihn erst recht daran hinderte, deutlich zu werden. Je länger er sprach, desto stiller wurde ich. Die Frage, ob sie sich jemals so nahe gestanden hatten wie ich den Eindruck hatte, daß er und Benjamin sich nahestanden, hing im Raum, aber ich fand die richtigen Worte nicht, ohne die ich mir wie ein naiver Eindringling vorgekommen wäre. War ich das? Welchen Frieden störte ich? Heute zweifle ich nicht mehr daran, daß André mir auf alle Fragen unumwunden geantwortet hätte.
    Statt dessen schweifte er ab und erzählte mir, daß sich mein Vater nach seiner ersten Entlassung für einen Komponisten namens Umberto Giordano zu interessieren begonnen hatte, von dessen Tod er während seines Klinikaufenthalts in der Zeitung gelesen hatte und der überhaupt niemandem ein Begriff war. Ein Name, den auch ich bis gestern nie gehört hatte, ein Name, von dem er eine Weile regelrecht besessen gewesen sei.
    »Er wollte alles über ihn erfahren. Er besorgte sich Schallplatten, was damals gar nicht einfach und im übrigen ziemlich teuer war. Von Andrea Chénier , der einzigen Oper, die seinen Tod überlebte, gab es nur eine Aufnahme mit dem berühmten Gigli, eine Aufnahme, die aus unzähligen Schellackplatten bestand, denn etwas anderes gab es damals noch nicht, und die zu bekommen war ziemlich aufwendig. Von da an interessierte er sich für Opern, nicht nur für Giordano, sondern für Opern im allgemeinen, das Anhören von Opern wurde zu seiner Droge. Puccini,Verdi, ich habe mich nie dafür interessiert. Diese Art Drogen brauchte ich nicht.«
    André lachte, aber sein Lachen klang alles andere als fröhlich. Ich hätte gern mitgelacht, aber es gelang mir nicht. Ich wußte zuwenig von dem, was Erwachsene wußten.
    Er hätte mein Vater sein können, und da der Alkohol mich nicht nur benommen, sondern auch freier gemacht hatte, sagte ich es ihm, und er antwortete: »Du hättest deinem Vater gefallen.«

    Die Zeit, die zwischen heute und unserem gemeinsamen Abend im Mollard liegt, hat Andrés Gesicht fast völlig verwischt. Nur manchmal blitzt es in einem Traum, in dem er mir begegnet, oder in den Gesichtszügen oder der Geschichte eines der vielen Zeugen oder Angeklagten, die täglich meinen Weg kreuzen, unvermutet wieder auf, und zwar so erschreckend deutlich, daß ich es zeichnen könnte, wenn ich die Fähigkeit dazu besäße. Und dann verschwindet das Bild wieder für Monate, manchmal Jahre, und ich erinnere mich an gar nichts außer seiner Statur. Er war groß, größer als ich, der ich damals noch nicht ausgewachsen war, und sehr schlank. Das wenige verbliebene Haar war blond, er hatte eine feine, dünne Nase unter einer hohen Stirn, hellgraue Augen, die hinter den dicken Brillengläsern entrückt wirkten, und lange schmale Hände. Sein Gesicht war von nicht ganz gesunder Röte. Er wirkte gelenkig und schien sich der sportlichen Wirkung seines Körpers und seiner Bewegungen bewußt zu sein. Alles in allem hatte sein Gesicht selbst bei näherer Betrachtung wenig Auffallendes außer einer gewissen Ebenmäßigkeit. Wenn überhaupt, zog er die Aufmerksamkeit der anderen durch seine Größe und Alertheit – ich finde kein besseres Wort –, nicht durch gutes Aussehenauf sich. Er schien jederzeit aufspringen und verschwinden zu können, was er in meiner Gegenwart natürlich nicht tat. Nicht wie ein Gehetzter kam er mir vor, sondern wie einer, der selber jagt. Er wirkte sehr gepflegt, aber nicht weichlich oder affektiert. Nicht effeminiert. Je länger wir in der großen Brasserie saßen, desto entspannter fühlte ich mich in seiner Gegenwart. Ich glaubte deutlich zu spüren, daß er etwas an sich hatte, was ihn und meinen Vater geeint hatte, ein Wesenszug oder eine Erfahrung, die mir selbst immer fremd bleiben würde.
    Ich wußte, daß ich André vertrauen konnte. Er erzählte mir, er sei mehrmals mit dem Gesetz in Konflikt gekommen. Wegen Lappalien, wie er mir zu verstehen gab, stets sei er nach wenigen Stunden auf freien Fuß gesetzt worden. Ich fragte ihn nicht nach den Gründen dieser Verhaftungen, aber ich ahnte, was los war. Ging es möglicherweise nicht nur darum, was er getan hatte, sondern auch darum, was andere getan hatten, während er sie fotografierte? Ich stellte keine Fragen.
    Lange Zeit hatte ich kein Bedürfnis, unsere Bekanntschaft aufzufrischen und ein weiteres Treffen zu arrangieren. Wozu, sagte

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