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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain Claude Sulzer
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beklagte er sich nicht. Du hast ja gelesen, was er schrieb. Er würde es aushalten. Er würde das durchstehen. Ich habe es gestern wiedergelesen, und es hat mich traurig gestimmt. Trotzdem muß es furchtbar gewesen sein, mit diesen verrückten alten Männern nachts in einem Raum zu liegen. Ich wollte es mir schon damals nicht vorstellen. Ich kann es mir auch heute nicht vorstellen.«
    Das sei, so André später, nicht sein letzter Klinikaufenthalt gewesen. Er habe sich, soviel er wisse, noch zweimal, vielleicht auch dreimal in Behandlung begeben. Den Umständen entsprechend war ihr Kontakt zu jener Zeit nicht mehr so eng gewesen, da André wenige Tage nach dem Abitur nach Frankreich gezogen war. Die Eltern hatten seine letzten Prüfungen abgewartet, um danach unverzüglich nach Paris zurückzukehren.
    »Sie wollten so schnell wie möglich zurück. Vor allem mein Vater, der Konsulatsangestellter war, kein hohes Tier, einer, der sich mit Stempeln und Ausweisen befaßte und für einen Diplomaten nicht weit in der Welt herumgekommen war. Nicht so, wie man sich einen Diplomaten vorstellt. Ein Beamter, der wie alle französischen Beamten früh pensioniert wurde. Während meiner letzten Schulwochen war er bereits auf Wohnungssuche in Paris. Er war froh, aus der Schweiz herauszukommen, die er als beengend empfand, obwohl er selbst genauso beschränkt warwie das kleine Land, das er nie gemocht hatte. Da seine Sehkraft besorgniserregend abnahm, hatte er Eile, nach Hause zurückzukehren. Er wollte alles wiedersehen und es sich für den Tag der vollständigen Erblindung einprägen. Einer der wenigen Sätze aus seinem Mund, an die ich mich erinnere. Daß er früh starb, hatte damit allerdings nicht das geringste zu tun. Es war eine Krebserkrankung, die ihn mit ungeheurer Wucht innerhalb weniger Monate erbarmungslos tötete. Klingt dramatisch und war es auch. Dem zuzusehen war schrecklich und ließ die Erinnerung an Emil etwas verblassen.«
    Nach seiner Ankunft in Paris schrieben sich die beiden nur noch selten. Der Kontakt brach nie ab, aber er nahm andere Formen an. Die Karten und Briefe, die sie einander damals schrieben, hatte André, wie er mir versicherte, außer den Nachrichten aus der Klinik, nicht aufbewahrt.
    »Wenn wir uns schrieben, war nichts mehr genauso wie früher. Wir wurden allmählich erwachsen. Erwachsener, als uns lieb war. Unsere Wege hatten sich getrennt, aber wenn wir uns wiedersahen, war alles wie früher, nun ja, beinahe wie früher. Es kam nur noch selten vor, jeder ging seine eigenen Wege. Es war ungefähr so, wie wir es uns vorgestellt hatten, nur weniger farbig, nicht so sensationell, alltäglicher. Wir verhielten uns wie alle Erwachsene, außer«, er hielt einen kurzen Augenblick inne, »außer daß wir keine Freundinnen hatten. Im Gegensatz zu den meisten anderen jungen Männern hatten wir einfach keine Freundinnen. Wir waren mit keiner verlobt und scheinbar auch nicht verliebt.« Es folgte eine Pause. »Das fiel aber kaum jemandem auf. Manchen schon. Wenigen. Meinen Eltern zum Beispiel fiel es nicht auf.« Er lachte, für meinen Geschmack etwas laut.
    »Und dann starb mein Vater, und nun hätte es nur noch meiner Mutter auffallen können. Aber sie hatte die Angewohnheit,über alles hinwegzusehen, was ihr unangenehm hätte werden können. Es hätte, aber es hat nicht.« Er lachte erneut.
    Er war es, der die fast ausgelassene Stimmung abrupt beendete. Er wisse mit absoluter Sicherheit, daß die späteren Klinikaufenthalte meines Vaters freiwillig erfolgten, er sei nie mehr zwangsweise, sondern stets auf eigenen Wunsch eingewiesen und wieder entlassen worden. Er wisse es ganz genau, weil mein Vater es ihm selbst erzählt hatte. »Ich erinnere mich genau daran, wo wir uns befanden, als er mir das sagte.«
    »Warum freiwillig? Ich verstehe das nicht.«
    André schien einem Gedanken nachzuhängen, den er offenbar nicht äußern wollte, und sagte schließlich: »Er fühlte sich in seiner Haut nicht wohl. Er war erwachsen, hatte seine eigene kleine Wohnung, besuchte das Lehrerseminar und war trotzdem unglücklich. Was er tat, entsprach ganz und gar den Vorstellungen und Plänen seiner Eltern. Er tat, was sie wollten, obwohl er frei war, zu tun, was er wollte. Er hatte nicht Lehrer werden wollen. Nun wurde er Lehrer. War das die Freiheit? Er tat, was man von ihm erwartete. Bei mir war das anders. Er wurde nicht Künstler. Er hatte den Umkreis der Schule verlassen und Schauspieler werden wollen. Er hat es

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