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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain Claude Sulzer
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könnte, auch wenn ich noch längst nicht alles verstünde, sagte ich. Und deshalb sei ich hier. Weil ich hoffte, er, André, könnte die Lücken füllen, die durch die zerronnene Zeit und das Schweigen entstanden seien. Das Schweigen, das sich meine Mutter auferlegt hatte und von dem ich wußte, daß sie es nicht brechen würde,solange man sie nicht dazu zwang. Und wie konnte ich das, solange ich nichts wußte?
    Nein, so habe ich damals wohl nicht argumentiert, auch wenn es mir heute so vorkommt, als ob es zumindest das gewesen sei, was ich sagen wollte. Aber André wußte genau, was ich meinte. Er nickte und trank und fragte: »Und was willst du wissen?«
    Ich habe keine Erinnerung an das Essen selbst, an das rohe Fleisch und die Pommes frites, aber ich weiß noch ziemlich genau, worüber wir sprachen und was André mir erzählte. Ich antwortete: »Alles natürlich.«
    Zwei Wochen lang hatte sich mein Vater in Hedingers Klinik aufgehalten. Es hatte sich dabei offenbar um ein etwas heruntergekommenes ehemaliges Schloß gehandelt, das schon seit Jahren in Professor Hedingers Besitz gewesen sei, der nebenbei auch Chefarzt einer großen kantonalen Klinik war und einen Lehrauftrag an der Uni hatte. Ein besessener Arbeiter, denn er habe auch Theaterstücke verfaßt – sie wurden aufgeführt – und Gedichte geschrieben, war er zweifellos eine gefragte Kapazität auf einem Gebiet gewesen, über das er Dutzende von wissenschaftlichen Aufsätzen publiziert hatte.
    Er selbst habe die Klinik, den Direktor, dessen Frau und Kinder, die anderen Patienten, die Umgebung nie gesehen, obwohl Besuche keineswegs unerwünscht waren, aber Emil hatte ihn am Telefon ausdrücklich darum gebeten, nicht zu kommen. Das wäre übrigens gar nicht nötig gewesen, denn er hatte nicht im Traum daran gedacht, von Paris nach K. zu fahren, das ziemlich abseits lag. Er hätte den Zug und den Bus nehmen müssen, was ihn eine Tagesreise gekostet hätte, das kam gar nicht in Frage. Es sei das Vorrecht der Jugend, ohne Mitleid zu sein, oder jedenfalls wählerisch in der Bevorzugung jener, die man bedauere oder nicht.
    »Ichhabe ihn nicht bedauert, das wäre unpassend, ja beleidigend gewesen. Nichts hätte deinen Vater mehr verletzt als das. Mitleid wäre wie Hohn gewesen. Dein Vater. Je öfter ich es ausspreche, desto seltsamer kommt es mir vor, daß Emil einen Sohn hat und daß dieser Sohn in diesem Augenblick vor mir sitzt.«
    »Warum wollte er nicht, daß du ihn besuchst?«
    »Weil es sich dabei doch bloß um eine Episode handelte, die vorübergehen würde wie die Schule, das Abitur, das Zusammenleben mit den Eltern, wie die Kindheit überhaupt. Am Ziel, von dem wir überzeugt waren, daß es greifbar nah war, erwartete uns etwas anderes, wir würden erwachsen sein, unabhängig, auf niemanden angewiesen, wir würden tun und lassen, was uns gefiele. Alles lief darauf hinaus, daß wir frei sein würden. Nichts war uns so wichtig wie unsere Freiheit. Wir taten, als wären wir schon jetzt aus den Kinderschuhen herausgewachsen. Wir übten für später, fürs Leben. Ein Fingerschnippen, so what! Wir taten, als sei alles selbstverständlich, auch daß man ihn dorthin schickte, wo er, wie wir wußten, nicht hingehörte. Ich tat so, und auch er tat so. Genausogut hätte ich derjenige sein können, der dort war, mich hätte er auch nicht besucht. Die anderen hatten es gewollt, nicht wir. Nicht er. Sein Vater. Seine Mutter. Er tat es seinem Vater zuliebe, seiner Mutter und sich, und vielleicht auch, um Streit zu vermeiden, das jedenfalls sagte er, glaube ich. Das redete er sich vielleicht auch nur ein. Aber mit einem Achselzucken. Heute frage ich mich natürlich, was er sich tatsächlich dachte, wenn er allein war, dort, wo man gar nicht allein sein konnte, ich meine, in der Klinik. Dort sah sicher alles ganz anders aus. Aber vielleicht doch nicht so schlimm?«
    »Wie war es dort? Was hat er erzählt?«
    »Nur wenig. Vielleicht war es ihm dann doch peinlich. Ererzählte mir, er habe sich das Zimmer, in dem sein Bett stand, mit einem Dutzend anderer Männer geteilt. Stell dir das vor! Die meisten waren schon ziemlich alt oder mußten ihm alt vorkommen, wir waren so jung, und alle, die älter als dreißig waren, kamen uns uralt vor. Die meisten waren schon lange dort. Alt, närrisch, übelriechend und hundert unangenehme Eigenschaften mehr. Aber er hat mir keine Einzelheiten erzählt. Er hatte alle möglichen Schwächen, aber wehleidig war er nicht. Deshalb

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