Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
erwies sich als ein Vorhaben, das sich angesichts der Lokalität sogleich verflüchtigte. Indem ich meinem Sohn alles verschwieg – und weiterhin verschweige –, was ich über meinen Vater weiß, unterdrücke ich, anders als damals meine Mutter, kein Wissen, über das er unbedingt verfügen sollte, auch wenn ich mich dabei kaum weniger zaghaft verhalte als sie. Um sich eine Vorstellung von seiner eigenen Zukunft machen zu können, ist die Kenntnis der Vergangenheit seines Großvaters alles andere als unentbehrlich. Sollte er mich jemals nach ihm fragen, würde ich ihm die Wahrheit sagen, oder zumindest jenen Teil der Wahrheit, den ich ihm zumute. Aber er fragt nicht.
[Menü]
VIII
Ein einziger Blick quer über den Schulhof hatte genügt, um Emil in jenen Zustand zu versetzen, den er so haßte. Der Junge war sich seiner Sache sicher, das spürte er, das war es nicht, was er fürchtete.
Er haßte es, sich nach Jungen umdrehen zu müssen, er haßte es, weil er der einzige war, er haßte es, weil es nie Mädchen waren und weil nie einer seinen Blick erwiderte. Bis zu jenem Tag im Sommer 1947, an dem er André kennenlernte. André hielt seinem Blick stand, das bildete er sich nicht ein. Er kam auf ihn zu und begann auf ihn einzureden. Ohne daß sie einander vorgestellt wurden, erzählte er ihm, woher er kam und wer seine Eltern waren, daß sie in Paris, Marseille und London gelebt hatten, mitten im Kriegsgeschehen, wie er sagte, vier Mal umgezogen waren, daß er mehrere Sprachen beherrschte und seit kurzem die Klasse über ihm besuchte. Zehn Minuten später behauptete er, sie würden sich wiedersehen, er sagte nicht wann und nicht wo, doch schien er sich seiner Sache sicher zu sein. Obwohl ein Neuling, benahm er sich, als ob ihm das Schulhaus gehörte. Und Emil hatte an seinen Lippen gehangen und sich als seinen Besitz betrachtet.
War es sein Blick oder der Händedruck, die Art, wie er sich umdrehte und davonging, oder die Bewegung, mit der er sich durchs Haar fuhr, Emil blieb jedenfalls stehen. Nur ein Mal schaute sich André nach ihm um, dann tauchte er in der Masse der anderen Schüler unter undverschwand im Schulhaus. Er war ein Jahr älter als Emil.
Als er ihn einige Tage später auf dem Sportplatz zum zweiten Mal sah, war die Wiedersehensfreude riesig. Die Ernüchterung folgte, als er feststellen mußte, daß André ihn nicht beachtete. Obwohl er spürte, daß er es absichtlich tat, kränkte ihn dieses tückische Verhalten wie eine Niederlage. Der Versuch, sich ihm zu nähern, war gescheitert. Zu spät, es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen. André war bereits mit den anderen in die Umkleideräume gegangen, und Emil hatte seine Chance verpaßt.
Er begann zu laufen. Emil, dem Sport nicht viel bedeutete, war ein guter Läufer, unbesiegbar auf kurzen Strecken und ausdauernd auf der Aschenbahn, wo es nur wenige mit ihm aufnehmen konnten. Daß André, der ihn unterschätzte, zu ihnen gehörte, war ein glücklicher Zufall. Dieser ereignete sich eine Woche später.
Er hatte ihn gar nicht bemerkt. Es war ein Donnerstagnachmittag und in der prallen Sonne fast zu heiß zum Laufen. Zwei Runden hatte er bereits gedreht, als er Schritte hinter sich hörte. Keiner seiner Klassenkameraden hatte sich bereit erklärt, ihm Gesellschaft zu leisten, die Schüler der anderen Klassen trainierten Weitsprung und andere Sportarten oder spielten Fußball. Er lief allein. Als er sich zur Seite wendete, um zu sehen, wer ihm folgte, erblickte er André. Kurz davor, ihn zu überholen, war André jetzt auf gleicher Höhe, und diesmal ignorierte er ihn nicht.
»Ich habe dich beobachtet«, rief er außer Atem, »schon letztes Mal. Holst du mich ein?« Er lachte, überholte Emil und rannte voraus. Emil nahm es gelassen. André lief zu schnell, zu ungezügelt und zu siegesgewiß. Er würde es bei dieser Geschwindigkeit zwar schaffen, eine halbe, vielleicht eine ganze Bahn vorauszueilen, doch dann würde ihnbald die Kraft verlassen. Er würde allmählich zurückfallen.
Während sich Emil auf das enttäuschte Gesicht seines Rivalen gefaßt machte, legte André noch eine Weile an Tempo zu. Emil behielt seine ruhigere Gangart bei, ihr vertraute er mehr als überflüssig verpuffender Energie. Er erhöhte seine Geschwindigkeit fast unmerklich. Noch drei, vier Runden, und er würde André weit hinter sich lassen. Er achtete darauf, daß sein Atem gleichmäßig ging, im Einklang mit seinen Schritten und seinem Vorsatz zu gewinnen. Er würde
Weitere Kostenlose Bücher