Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
ich mir, wäre das gut gewesen? Heute, da ich selber älter bin, als André damals war, würde ich ihn gerne wiedersehen. Doch es ist zu spät. Die unheilbare Krankheit, an der er starb, ähnelte in keiner Weise jener, an der mein Vater litt, aber es gab einen intimen Zusammenhang, als hätte einer den anderen nicht losgelassen. Hätte mein Vater sein Leiden gemeistert, wäre am Ende vielleicht auch er daran gestorben.
Ich habe nach unserem Gespräch im Mollard nie daran gedacht, ihn um Rat zu bitten. Dann starb er. Und nun hätte ich mich doch gerne noch einmal mit ihm unterhalten, jetzt, da ich jenes dringende Bedürfnis, Dinge in Erfahrungbringen zu wollen, die nur ihm bekannt waren, nicht mehr verspürte. Es war von mir abgefallen wie eine alte Haut. Erwachsen war mir statt dessen eine Erinnerung an jenen Abend vor vielen Jahren, die mich fast wehmütig stimmte.
Wie unerwartet sein Tod kam, wissen nur die, die ihn kannten. Ich kannte ihn kaum, von seinem Tod erfuhr ich erst Monate nach seiner Beerdigung. Da erst keimte in mir das klamme Gefühl, etwas versäumt zu haben, als ich den Kontakt mit ihm nicht aufrechterhielt, was angesichts unserer weit auseinanderliegenden Wohnorte ja nicht schwerfiel. Als erster hat er über einen Menschen aus Fleisch und Blut gesprochen, etwas, was meine Mutter bis dahin nicht vermocht oder gewollt hatte. Er hat mir die Karten aus der Klinik zur Verfügung gestellt. Er hat mir Einblick in Emils Welt gewährt, in ihre gemeinsame Jugend und das, was ihr folgen würde. Er hat mir an jenem Abend Dinge erzählt, von denen ich nichts wußte, Details, die meinen Vater zugleich lebendig und fremd machten. Er hat Nähe und Distanz für Augenblicke zusammengeführt und miteinander verknüpft.
Als wir uns trennten, streckte er mir beide Hände entgegen. Er unterdrückte die Versuchung, mich zu umarmen, wie es in Frankreich auch unter flüchtigen Bekannten Sitte ist. Obwohl er mich um mehr als einen Kopf überragte und ich mich deshalb fast auf die Zehenspitzen stellen mußte, ergriff ich die Initiative und küßte ihn auf beide Wangen, so ungezwungen wie es mir nur möglich war, was mir erstaunlicherweise leichter fiel, als es mir heute fallen würde. Er gab mir den dritten Kuß.
Als ich einen Schritt zurücktrat, sah ich, daß er rot geworden war. Es war ihm bewußt, und es war ihm offensichtlich unangenehm, was das Erröten noch etwas verstärkte. Ich hatte ihn dabei ertappt, aus selbstverordneter Zurückhaltungetwas unterdrücken zu müssen, was er üblicherweise wahrscheinlich nicht unterdrückte: seine Begierde nach jungen Leuten wie mir. Auch wenn ich sie nicht teilte, schien sie mir in jenem Augenblick keineswegs lasterhaft oder widernatürlich.
Unversehens war ich mir meiner Jugend und der Macht bewußt, die diese auf einen Mann wie ihn ausüben mußte. Obwohl ich meine Wirkung damals vielleicht überschätzte, habe ich keinen Grund, sie im nachhinein zu bagatellisieren. Meine Jugend war verlockend, ich war mir dessen bewußt, und daß ich Emils Sohn war, änderte gar nichts daran, im Gegenteil, es hat den verbotenen Reiz noch erhöht. Heute bilde ich mir manchmal ein, in Andrés Augen hätten Tränen gestanden, als wir uns trennten, aber diese Ingredienz hat ohne Zweifel meine sonst nicht besonders stark ausgeprägte Fantasie beigesteuert. Weder ihm noch mir war zum Weinen zumute, ich war zu jung, er hatte sich unverzüglich wieder im Griff.
Als ich vor einigen Jahren meinem damals gerade volljährig gewordenen Sohn Paris zeigte, oder zumindest das, was ich davon kenne, lud ich ihn eines Abends, ohne es geplant zu haben, ins Mollard, den magischen Ort meiner Jugend, ein. Ich hatte mir vage vorgenommen, ihm von seinem Großvater und den Umständen zu erzählen, die zu seinem Selbstmord geführt hatten. Vielleicht auch von seinem Freund André, den ich hier zum letzten Mal gesehen hatte, als ich etwa so alt war wie er und heimlich nach Paris gefahren war, ein Abenteuer, das als Anekdote in die Familiengeschichte eingegangen war, ohne daß die Hintergründe bekannt gewesen wären.
Doch kaum hatten wir das Lokal betreten, wußte ich, daß ich nicht imstande sein würde, meinen Vater und die näheren Umstände seines Todes an diesem Ort auch nur am Rande zu erwähnen. Zum ersten Mal kam mir zudem derGedanke, daß sich auch Emil und André hier getroffen haben mochten.
Mein Einfall, meinen Sohn in alte Geschichten einzuweihen, mit denen ich ihn vielleicht nur belastet hätte,
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