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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain Claude Sulzer
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in der Küche herum. Ich wählte, und nach mehrmaligem Läuten nahm André schließlich ab. Auf dem Bildschirm erschien eine Nachrichtensprecherin vor einer Wetterkarte, und ich wunderte mich über ihre Gesten und ihre Mimik, die ebenso groß und übertrieben waren wie das Muster ihrer Bluse und deren Ausschnitt. Ob sich André darüber wunderte, daß ich Paris noch nicht verlassen hatte, war an seiner Stimme, die ich tiefer in Erinnerung hatte, nicht zu erkennen. Vielleicht hatte er mit meinem Anruf gerechnet. Ich bat darum, ihn sehen zu können, und ohne zu zögern sagte er zu. Wir verabredeten uns für den gleichen Tag zum Abendessen. Er schlug als Treffpunkt eine Brasserie in der Nähe des Bahnhofs St. Lazare vor. Pünktlich um acht Uhr betrat ich das Mollard.
    André saß bereits an einer der Längswände, wo sich unter Spiegeln und einem Ansturm farbiger Kacheln und glänzenden Marmors Tisch an Tisch reihte. Noch war nicht einmal die Hälfte der Plätze besetzt, doch allmählich füllte sich das Lokal, und der Lärmpegel in meinem Rückennahm rapide zu. Da die Tische jedoch sehr klein waren, hatten wir keine Mühe, uns zu unterhalten, beinahe so, als wären wir allein. Selbst wenn wir uns beide zurücklehnten, trennte uns höchstens ein Meter.
    Man kannte André. Er und der Kellner, der uns bediente, duzten sich, und mir schien, als wechselten sie bei meiner Ankunft amüsierte Blicke, was mir unangenehm war. Ich ließ es mir nicht anmerken. Ich hatte den Eindruck, der Garçon sei in etwas eingeweiht, was ihn nichts anging. Ich nahm mir vor, ihn für den Rest des Abends nicht mehr zu beachten. André stand auf, wir gaben uns die Hand, ich setzte mich, er reichte mir die Speisekarte, er hatte offenbar bereits gewählt. Das Angebot war reichhaltig und günstiger als im Le Zimmer.
    Ich ließ meine Augen immer wieder über die einschüchternde Auswahl wandern, was André nicht entging, und wußte nicht, wofür ich mich entscheiden sollte. Er empfahl mir Steak tartare, und ich stimmte zu. Daß es sich dabei um rohes Fleisch handelte, wußte ich damals nicht. Ich aß das zum ersten Mal. Zu Hause gab es das nicht.
    Der Kellner trat wieder an den Tisch und André gab die Bestellung für uns beide auf. Auf dem Tisch stand eine Karaffe mit Weißwein, von dem André bereits getrunken hatte. Ungefragt schenkte er mir ein, ein Blick genügte, ich nickte. Ich trank einen Schluck auf nüchternen Magen und spürte die Wirkung des Alkohols sofort. Ich habe nicht gezählt, wie oft André in den folgenden zwei Stunden nach neuem Wein winkte und einschenkte, es müssen mehr als drei Karaffen gewesen sein. Er war durstig, und ich war ungeübt und befangen genug, um mehr zu trinken, als mir guttat. Aber eines war nicht von der Hand zu weisen: Der Wein dämpfte das störende Bewußtsein meiner Unerfahrenheit, stärkte meine Beharrlichkeit und ließ mich vergessen, daß ich minderjährig war. Übrigens schienensich weder André noch der Kellner darüber Gedanken zu machen, daß es verboten war, einem Siebzehnjährigen Wein auszuschenken, und ich selbst machte sie mir erst Jahre später, als unser Zusammentreffen nur noch eine Erinnerung war, die aus vielen Komponenten bestand, in denen der Alkohol, den ich getrunken hatte, nichts weiter als eine Begleiterscheinung war, die zur Entkrampfung beitrug. Natürlich rauchte ich auch.
    Ich bedankte mich für das Geld. Benjamin hatte ihm erzählt, daß ich es nicht behalten hatte. Ich bedankte mich auch für die Karten, die mir Benjamin in seinem Auftrag übergeben hatte. Ob er sich vorstellen könne, was sie mir bedeuteten? Ich hätte selbstverständlich nicht mit einem solchen Fund gerechnet. André nickte, griff nach seinem Glas und sagte: »Es war kein Fund, es war das Ergebnis einer Suche nach etwas, von dem ich wußte, daß es existierte.« Dann trank er wieder einen Schluck und blickte mir direkt in die Augen. Ich glaubte zu wissen, was er sah oder was er dachte, aber es wäre mir unpassend erschienen, wenn er es ausgesprochen hätte. Er tat es nicht. Ich erinnerte ihn an Emil. Ich war nicht wie er, aber die Ähnlichkeit mußte verblüffend sein. Ich hielt seinem Blick stand, wenngleich mir das Lächeln, das ich versuchte, mißlang. Bevor er irgend etwas sagen konnte, setzte ich selbst zum Sprechen an.
    Außer der Uhr, die nicht spreche, sondern bloß ein Gegenstand, ein Zeichen, wenngleich ein unvergängliches, sei, besäße ich nichts von meinem Vater, das sich mit diesen Zeilen messen

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