Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
meine Mutter.
Ich wußte mehr über die Frisuren, die in seiner Jugend Mode gewesen waren, als über seine Vorlieben und Abneigungen. Ich wußte nichts über sein Verhältnis zu den Eltern und zu fremden Autoritäten. Ich wußte nichts über seine Lehrer und nichts über seine Schüler, ich wußte nicht, ob er sich je einen Sohn gewünscht hatte. Ich war siebzehn und ahnungslos, ich hatte nie über den Tellerrand meiner eigenen Existenz geblickt, es war bislang auch nicht nötig gewesen. Ich war zugeknöpft und schüchtern.
Zurückhaltung und Versöhnlichkeit sind keine Tugenden, die ein Siebzehnjähriger anstrebt. Doch genau so muß ich damals auf andere gewirkt haben, zurückhaltend und vernünftig, vielleicht auch nur langweilig. Wie hätte ich dagegen aufbegehren können? Indem ich mir einen Bart wachsen ließ und rauchte? Ich rauchte, aber das bißchen Flaum, das auf meinen Wangen sproß, hätte das fehlende Selbstvertrauen nur unterstrichen. Ich hatte keine ausgeprägten Abneigungen. Ich hatte Freunde, aber wenn sie nicht da waren, vermißte ich sie nicht. Ich nehme an, es ging ihnen nicht anders. Niemand empfand besondere Antipathien gegen mich, man ließ mich in Ruhe. In der Schule gehörte ich zu keiner Gruppe, wurde aber auch von keiner gemieden. Kaum jemand wußte über meine familiäre Situation Bescheid. Mein Stiefvater hatte mich adoptiert, ich trug seinen Namen. Ich glaube, man sah uns nicht an, daß wir nicht verwandt waren.
Ich war in einer Familie aufgewachsen, die ich stets als intakt empfunden hatte. Ich liebte meinen Stiefvater wie einenleiblichen Vater oder so, wie ich mir vorstellte, daß man seinen leiblichen Vater lieben sollte. Vielleicht war es auch Wertschätzung, aber war die für das Zusammenleben nicht ebenso notwendig wie Zuneigung? Ich wußte, daß Wertschätzung mit Liebe nicht gleichzusetzen ist. Ich wußte, daß es Formen der Verbundenheit gab, die mit Liebe oder Wertschätzung nur wenig zu tun hatten, sie reichten von Nichtbeachtung zu Mißachtung und nicht selten zur Verachtung. Völlige Abneigung war nicht selten der sichtbarste Ausdruck der Zusammengehörigkeit, aber auch der Unverträglichkeit. Ich glaubte bei meinen Mitschülern alle möglichen widersprüchlichen Empfindungen erkennen zu können, die ich vermissen ließ. Meine Achtung vor Roland war keinen Schwankungen unterworfen. Vielleicht war sie nichts weiter als Gleichgültigkeit.
Kurz nach der Einschulung, als ich sieben Jahre alt war, hatte man mir schonend beigebracht, daß mein leiblicher Vater wenige Wochen nach meiner Geburt gestorben war. Eine Enthüllung, die keinen bleibenden Eindruck hinterließ. Ich speicherte die nackte Mitteilung. Man hatte nicht erwähnt, auf welche Art und Weise er gestorben war, das erfuhr ich erst später, mit zehn oder elf, von meiner Mutter. An dieses Gespräch allerdings erinnere ich mich in fast allen Einzelheiten. Es fand an einem Sonntagnachmittag im Winter statt, draußen tauten alte Schneehügel in der Sonne, irgendwo quietschte ein Autoreifen, als müsse jemand scharf bremsen. Wie alle wichtigen Gespräche, die meine Mutter und ich über meinen Vater führten, hatte sie auch dieses Mal dafür gesorgt, daß Roland nicht dabei war. Daß mir seine Gegenwart in diesem Augenblick lieb gewesen wäre, konnte sie nicht wissen. Heute frage ich mich, weshalb er nie mit mir darüber sprach. Ich frage mich auch, warum ich ihn nicht zur Rede stellte. Habeich damit gerechnet, ihn, der nichts mit der Sache zu tun hatte, aus der Fassung zu bringen, habe ich das befürchtet, oder wollte ich »die Sache« einfach mit niemandem teilen?
Meine Mutter schuf eine Situation, die ihn ausschloß, eine Situation, die außer uns beiden niemanden etwas anging. Sie saß auf dem Sofa und forderte mich auf, mich neben sie zu setzen, etwas Ungewohntes, dem ich mich nicht verweigern konnte. Ich habe vergessen, ob wir etwas tranken.
Es ergab sich, daß wir uns anschauten, oder es gelang ihr, es irgendwie zu erzwingen. Sie legte eine Hand auf meine Schulter und sah mir in die Augen. Ich konnte eine Weile die Augen nicht von ihr abwenden. All das war ungewöhnlich. Es war dramatisch, und das paßte nicht zu ihr. Es paßte nicht zu ihr, sich zu beherrschen, sie hatte niemals Grund, sich zu beherrschen. Sie sagte, mein Vater sei nicht einfach so gestorben. Er sei weder krank gewesen noch bei einem Unfall ums Leben gekommen. Ich staunte und schaute vermutlich erstaunt. Vorsichtig begann sie über sein Ende zu
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