Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
schien.
Das Geld wurde auf einem Sparheft zurückgelegt, das ich nicht antastete. Mit siebzehn besaß ich fast zweitausend Franken. »Dein Geld aus Lugano«, wie meine Mutter sagte.
Ich erinnerte mich dunkel an einen großen Mann mit weißen Haaren und einer gelben Strickjacke. Ich wurde angehalten, ihm zu schreiben und mich zu bedanken, was mir nicht leicht fiel, weil ich mir einbildete, man könnte die richtigen Worte nur finden, wenn man wisse, an wen man schreibe. Ich nehme an, daß ich mehr oder weniger stets dasselbe schrieb und daß nur meine Schrift sich allmählichveränderte. Sie wurde immer nachlässiger, was man vor allem in der Schule bemängelte. Statt vorwärts zu streben, neigten sich meine Buchstaben nach hinten, und je mehr man das kritisierte, desto schräger wurden sie. Ich strengte mich an, eine häßliche Klaue zu haben.
Den letzten Scheck erhielt ich zu meinem fünfzehnten Geburtstag. Danach schrieb er mir nicht mehr, und ich brauchte nicht zu antworten, ich hatte keinen Grund, und niemand forderte mich dazu auf. Falls mein Großvater starb, würde man es sicher erfahren. Offenbar hatten er und seine neue Frau meinen Geburtstag vergessen. Ich fühlte mich nicht vernachlässigt. Das Gefühl, durch seine Worte berührt zu werden, stellte sich nicht mehr ein. Ich hatte nur selten an ihn gedacht, nun dachte ich noch seltener an ihn. Er lebte und hatte mich vergessen.
Ich hatte keine Ahnung, ob mein Großvater noch berufstätig war und in welchen Verhältnissen er lebte, nahm aber auf Grund seiner Zuwendungen an, daß er gutsituiert sei.
Mein Vater war das einzige Kind meiner Großeltern gewesen so wie ich das einzige Kind meiner Eltern war.
Plötzlich wollte ich das Bild nicht mehr sehen. Abrupt drehte ich mich zur Wand um. Ich wollte nicht. Ich wollte nichts von ihm. Was ich verlangt hätte, hätte ich nicht erhalten. Eine Weile starrte ich an die Wand, auf die Tapete mit dem einfachen Muster, das ich so gut kannte. Im Haus war es still, ich hörte meinen eigenen Atem.
Meine Mutter war ausgegangen. Wenn ich am Mittwochnachmittag zu Hause blieb, nutzte sie oftmals die Gelegenheit, Freundinnen zu treffen. Obwohl es keinen Grund zur Besorgnis gab, ließ sie das Haus ungern allein. Sie ging nicht weg, wenn niemand zu Hause war, sie hütete das Haus wie ein Hund, der eine Aufgabe braucht, das waren ihre eigenen Worte. Dabei lebten wir in einer sicherenGegend. Gab es bei uns unsichere Gegenden? Die mochte es dort geben, wo mein Großvater lebte. Warum hatte mein Vater keinen anderen Ausweg gesehen, hatte er überhaupt nach einem Ausweg gesucht? Ich wußte wenig über ihn und so gut wie nichts über sein tragisches Ende. Nicht mehr als das, was ein paar Halbsätze, die ich im Lauf der Jahre gehört hatte, an dürftigen Auskünften abwarfen. Mir kam es vor, als wäre ich aus einer Erstarrung erwacht. Ich drehte mich wieder zur Fotografie um. Ich wußte nichts über die Umstände, die dazu geführt hatten, daß er Selbstmord beging. Lag das einzig und allein daran, daß ich nie danach gefragt hatte?
Wahrscheinlich hatte man vor der Sitzung die Vorhänge zugezogen und einen Scheinwerfer auf ihn gerichtet. Wahrscheinlich hatte man einen dieser weißen Fotografenschirme aufgestellt, um das Licht besser zu verteilen. Das Gesicht, die Hand und die Armbanduhr hoben sich deutlich vom dunklen Hintergrund ab. Doch gab es nicht den geringsten Anhaltspunkt, wo das Bild entstanden war. Er trug ein dunkles Jackett, ein weißes Hemd und eine diagonal gestreifte Krawatte. Es war ein Brustbild, vom Scheitel bis etwa zur Höhe des Brustbeins.
Die Haare trug er ziemlich lang, länger, als es zur Zeit der Aufnahme Mode gewesen war. Der Haarschnitt paßte eher zu einem Künstler als zu einem Lehrer. Die Haare waren nach hinten gekämmt und dunkel, vielleicht mit etwas Gel gefestigt. Vielleicht hatte er sich durch die Art, wie er seine Haare trug, von den anderen unterscheiden wollen.
Ich wußte nicht, welche Klassen und Altersgruppen er unterrichtet hatte. Ich wußte nicht, ob er, anders als ich, sportlich gewesen war. Auf den Urlaubsfotos war ein schlanker, aber nicht sonderlich athletischer Mann zu sehen. Ich wußte, daß er nach dem Abschluß seines Pädagogikstudiumszwei oder drei Jahre lang unterrichtet hatte, ich wußte aber nicht, an welcher Schule und in welchem Schulhaus. Er hatte Französisch und Deutsch unterrichtet, das hatte man mir erzählt. Als er starb, war er vierundzwanzig, ein Jahr älter als
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