Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
Telefonbuch auf und notierte mir vier zufällig ausgewählte Uhrmachergeschäfte. Zur Not würde ich jedes einzelne aufsuchen, wobei ich keine genaue Vorstellung davon hatte, welche Informationen ich eigentlich suchte. Was ich in Erfahrung bringen wollte, war so verschwommen wie das, was ich schon wußte.
Es ging mir nicht darum, den Wert der Uhr in irgendeinerWährung bestimmen zu lassen, ich wollte nicht wissen, was sie heute kostete oder gestern gekostet hatte, sondern was sie jemandem bedeuten mochte, der sie heute besaß oder 1950 besessen hatte. Ein Uhrmacher, ein Mann, der von seiner Sache etwas verstand, schien mir am ehesten geeignet, diese Fragen zu beantworten. Ich ging auf mein Ziel zu wie ein Blinder, der sich auf seine verbliebenen Sinne verläßt. Solange er die Geräusche um sich herum richtig deutet, wird ihm schon nichts zustoßen. Er wird ans Ziel gelangen, auch wenn er es nie gesehen hat.
Ich machte mich auf den Weg und hatte auf Anhieb Glück. »Rentsch – Uhren und Schmuck« stand als erstes auf meiner Liste und lag in einer kleinen Seitengasse in der Nähe des Rathausplatzes, der Straßenbahnhaltestelle am nächsten, an der ich ausgestiegen war. Ich befand mich im Zentrum der Stadt, wo man einkaufte, aber niemanden kannte. Ich fand den Laden und blieb vor dem Schaufenster stehen. Die Scheiben waren innen wie außen offenbar ebensolange unangetastet geblieben wie die Uhren und der Schmuck, die auf einer tiefdunkelblauen Samtunterlage ausgestellt waren, über die sich eine feine Staubschicht gelegt hatte, dazwischen lag da und dort abgebröckelter Putz. Die Samtbespannung hatte nicht ganz ausgereicht, an den seitlichen Rändern erkannte man die billige Sperrholzunterlage. Ein plissierter Vorhang in derselben dunklen Farbe, über dem ein Messingschild hing, bildete den Hintergrund. Auf dem Schild waren der Schriftzug An- und Verkauf, Reparatur Schmuck und Uhren – Rentsch sowie die Öffnungszeiten eingraviert.
Ich versuchte, mich auf die Einzelheiten zu konzentrieren. Taschenuhren, Armbanduhren, Wecker, Hut- und Krawattennadeln, Broschen, Ohrringe und Manschettenknöpfe lagen und steckten ohne jede erkennbare Ordnung auf kleinen Kissen, in Schächtelchen, auf Glasregalenunterschiedlicher Größe, wie hingeworfen auf der Samtfläche, mit Edelsteinen besetzte Ringe steckten an gereckten weißen Porzellanhänden, Korallen- und Perlenketten, Gold- und Silberkettchen hingen von künstlichen Zweigen, doch nichts nahm den Blick gefangen, vielleicht deshalb, weil der Staub, der alles bedeckte, die Gegenstände stumpf und glanzlos gemacht hatte. Die Edelsteine funkelten nicht, und das Gold war fahl. Alles schien gleich wertvoll oder wertlos und nicht besonders anziehend.
Ich versuchte, mich auf die Armbanduhren zu konzentrieren, was angesichts der Unübersichtlichkeit der Auslage einige Aufmerksamkeit erforderte. Neben einem Dutzend anderer Marken gab es einige Uhren der Firma Omega, eine Seamaster war, soviel ich erkennen konnte, nicht darunter. Was auf den mit roten Wollfäden angehängten Preisschildchen stand, konnte ich nicht entziffern. Ob die Preise noch stimmten? Waren es überhaupt Preise, waren es nicht Nummern? Das Schaufenster war nicht beleuchtet, obwohl eine Beleuchtung nicht geschadet hätte.
Ich zögerte kurz, bevor ich meine Hand auf die Klinke legte. Wäre die Tür abgeschlossen gewesen, hätte ich auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre vermutlich nicht mehr hergekommen. Doch das Geschäft hatte geöffnet, und ich trat ein. Der Raum war klein, eng und genauso vollgestopft wie das Schaufenster, eine dunkle Höhle, die einen Bewohner hatte, von dem ich zunächst nur die Haare sah. Die Luft, die nach Heizöl roch, war vom erregten Ticken unzähliger großer und kleiner Uhren durchwirkt, die unvermittelt in verschiedenen Tonlagen und Lautstärken immer wieder halbe, ganze oder Viertelstunden schlugen. Das unablässige Aufbranden und Abschwellen dieser klingenden Fluten, unterbrochen von den ersterbenden Hilferufen verlassener Glöckchen und gezupfterSaiten, folgte keinerlei Regeln. Nach kurzer Zeit nahm ich nur noch ein allgemeines Surren und Klingeln wahr.
Die spärliche Beleuchtung, die den Laden in diffuses Halbdunkel tauchte, kam nicht von außen, sondern von der Scherenlampe des Uhrmachers, der über seine Arbeit gebeugt war und erst aufsah, als ich näher trat. Über der Theke hing eine weitere Lampe, die erst aufleuchtete, als ich die Tür hinter mir geschlossen hatte.
Der Mann
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