Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
sprechen, über seinen »Tod«, wie sie schließlich sagte. Alles, was sie sagte, sagte sie freiwillig. Und dennoch redete sie, als ob jemand sie nötigte, über Dinge zu sprechen, über die sie lieber geschwiegen hätte. Ich stellte keine Fragen, ich hörte nur zu. Ich war es nicht, der etwas von ihr forderte. Ich hörte aufmerksam zu, ich sah sie an, und plötzlich hielt sie meinem Blick nicht mehr stand. Vielleicht hatte sie sich jeden Satz genau überlegt, vermutlich hatte sie sogar mit meiner Reaktion gerechnet. Ich schwieg und starrte sie an. Es war, als versuchte ich trotzig die Annahme dieser Information zu verweigern. »Hast du mich verstanden«, fragte sie schließlich. Ich weiß noch, daß ich nickte. Ich hatte verstanden, daß mein Vater Selbstmord begangen hatte, aber nicht, was das bedeutete.
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II
Ich brauchte eine Lupe. Ich fand sie nach längerem Suchen in Rolands Arbeitszimmer in der oberen Schublade seines neuen Schreibtischs. Ich mußte vergrößern, was kaum zu erkennen war, das, was meinem Vater etwas bedeutet hatte. Mich interessierte die Uhr an seinem Arm. Sie war elegant und wirkte kostbar.
Ich legte die gerahmte Fotografie unter meine Schreibtischlampe, knipste das Licht an und fuhr mit der Lupe langsam über das Bild, vom Scheitel zum Hals, weiter zur Brust und zum Handgelenk. Endlich war das Glas auf die Armbanduhr gerichtet. Das Markenzeichen, das im oberen Viertel des Zifferblatts zu erkennen war, sah aus wie der Körper eines nach Luft schnappenden Plattfischs. Das offene Maul zeigte nach oben, darunter stand in Blockschrift der Firmenname und Automatic. Ein weiterer, kursiv gesetzter Schriftzug im unteren Viertel des Zifferblatts hatte ohne Hilfe der Lupe keinen Sinn ergeben. Nun wurde mir klar, weshalb ich das Wort nicht hatte entziffern können. Ich hatte den ersten Buchstaben für ein schwungvolles G gehalten und eine reiche Auswahl aller möglichen Absurditäten gelesen: Gernastor, Gamsaseit, Garmador, Gumraster .
Nachdem ich das Vergrößerungsglas zu Hilfe genommen und sich der erste Buchstabe als S entpuppt hatte, entschlüsselte ich mit Leichtigkeit das ganze Wort: Seamaster . Ein Modell, von dem ich nie zuvor gehört hatte. Nochwußte ich nicht, daß dieses Wort von nun an wie die Nadel eines Kompasses in jene Richtung weisen würde, in der allmählich ein Bild meines Vaters entstehen sollte. Eine Lupe stand mir dazu nicht zur Verfügung, und so würde dieser Prozeß sehr viel länger dauern als die Entzifferung des Wortes.
Eine Übersetzung für Seamaster fand ich in keinem Wörterbuch, auch später konnte mir niemand erklären, was es eigentlich bedeuten sollte. Hatte man dieses Modell nur deshalb so benannt, weil man damit tiefer tauchen konnte als mit allen anderen wasserdichten Uhren, die es schon gab? Wahrscheinlich war eine buchstäbliche Deutung gar nicht angestrebt worden, im Gegenteil, die Erfinder dieses Wortes hatten sich offenbar darum bemüht, ein geeignetes Sprungbrett für die Fantasie der Käufer zu schaffen. Mein Vater Seamaster, dachte ich manchmal, Herrscher über ein Meer von Andeutungen und Wunschbildern.
Die Armbanduhr meines Vaters wirkte auf mich so anziehend, daß ich mir kaum vorstellen konnte, sie sei wertlos. Ich hatte keine Ahnung, zu welchen Preisen alte Uhren gehandelt wurden, ich hatte überhaupt keine Ahnung vom Wert alter Uhren.
Bei den hellen Einlassungen der dünnen Stunden- und Minutenzeiger mußte es sich um leuchtende Radiumeinlagen handeln, etwas, was zwanzig Jahre später als gesundheitsgefährdend galt und deshalb nicht mehr hergestellt wurde.
Ein weiterer Blick durch die Lupe ließ mich einzelne Härchen auf dem Handrücken meines Vaters erkennen. Seine Hand und was vom Handgelenk zu sehen war, hatte große Ähnlichkeit mit meiner Hand und meinem Handgelenk. Das Handgelenk war schmal, die Uhr aber verdeckte es fast. Ich empfand so etwas wie Stolz, daß dieses Detailauf mich übergegangen war. Nun war es Teil meiner selbst und zugleich eine nachgezeichnete Spur. Ich blickte auf meine Hand, auf der noch keine Härchen wuchsen, und dann auf seine Hand, und plötzlich hatte ich das Gefühl, als lege sich seine Hand auf meine. Ich spürte einen sanften Druck. Ich wußte, es war Einbildung, aber die Einbildung war nicht weniger stark als eine wirkliche Berührung. Ich beugte mich hinunter, legte meine Wange auf das kalte Glas und wartete, bis es sich erwärmte. Dann richtete ich mich wieder auf.
Ich knipste das Licht aus.
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