Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
Obwohl das Glas meine Beobachtungen nicht behindert hatte, entschloß ich mich nun, das Foto aus dem Rahmen zu lösen. Die Entscheidung war ein weiterer kleiner Schritt in die Richtung, die mir die unsichtbare Kompaßnadel wies. Vorsichtig fuhr ich mit einem spitzen Küchenmesser unter die winzigen Nägel, die den Karton auf der Rückseite festhielten, und bog sie nach oben. Ich tat mein möglichstes, um nichts zu beschädigen. Schließlich standen sämtliche Nägel aufrecht da, und ich fuhr mit dem Messer unter den Karton. Als es auf das Glas traf, knirschte es unangenehm. Ich hob den Karton ab und starrte auf die vergilbte Rückseite des Fotos. Ich hatte gefunden, was ich suchte, den Stempel des Fotografen, ein Name, eine Adresse: André Gros, Atelier de Photographie, 53 Rue Blanche, Paris 9ème Arr. Keine Telefonnummer, keine Postleitzahl.
Ich kannte diesen Namen.
Es erging mir wie jemandem, der sich beim Betrachten einer Hemdnaht plötzlich darüber klar wird, daß diese Naht nicht von einer Maschine, sondern von einem Menschen hergestellt wurde. Irgend etwas aus einer anderen Welt haftete noch am Kleidungsstück, ein staubkorngroßes Partikel, ein unsichtbares Atom – ein menschlicher Abdruck, der sich nicht wegwaschen ließ.
Ichkannte diesen Namen, aber es dauerte den Bruchteil einer Sekunde, bis ich ihn mit seinem Träger verband. Es war der Name meines Patenonkels, den ich nie gesehen hatte. Er war der Inhaber eines Fotoateliers in Paris. André Gros war der Mann, den wir aus den Augen verloren hatten, von dem ich nur drei Dinge wußte, daß er seine Kindheit und Jugend in der Schweiz verbracht hatte, daß er ein Schulfreund meines Vaters gewesen war und daß er sich nach dessen Beerdigung nicht mehr gemeldet hatte. »Nie mehr«, wie meine Mutter einmal sagte. Kein »Schade« und kein Versuch, den Kontakt neu zu knüpfen. Drei Aussagen, die scheinbar nichts miteinander zu tun hatten, aber in einem Atemzug gemacht wurden. Ein Patenonkel, der sich nicht um einen kümmert, nachdem der Vater tot ist, macht keine gute Figur. Kein Wunder, daß man ihn vergessen wollte. Daß er seinen Stempel auf der Rückseite des Fotos hinterlassen hatte, brachte meine Nachforschungen voran. Ich hatte etwas in der Hand, ein Foto und einen Namen.
André war nach Paris gezogen, das hatte sie mir erzählt. Daß er Fotograf war, erfuhr ich erst jetzt. Mein Vater war nach Paris gefahren, um sich von ihm fotografieren zu lassen, oder er hatte ihn hier fotografiert. Vielleicht hatte André seine Ausbildung noch in der Schweiz absolviert. Vielleicht war das Foto während seiner Ausbildung entstanden. Vielleicht war es Teil seiner Abschlußarbeit, mein Vater hatte ihm aus Freundschaft Porträt gesessen. Es hatte genügt, das Foto aus dem Rahmen zu nehmen, um zu erfahren, was ich längst hätte wissen können. Mein Patenonkel war der Fotograf. André mußte so alt sein wie mein Vater.
Was mir wie Schuppen von den Augen gefallen war, entwich im nächsten Augenblick und ließ mich erneut im Ungewissen. Es war nichts. Ich wußte nichts. Ich hatte nichtsin der Hand. Ich hatte gar nichts verstanden. Alles außer der Existenz dieses Bildes und der verschwundenen Uhr war ungewiß. Nein, ich verstand nichts. Meine Mutter hatte es nicht für nötig gehalten, mir zu erzählen, wer dieses Foto gemacht hatte. Oder sie hatte es absichtlich verschwiegen. Ich versuchte mir einzureden, daß es keine Rolle spielte, wer das Foto gemacht hatte, ob mein Patenonkel oder ein Fremder. Ich wußte, daß es nicht unwichtig war. Es war kein Zufall, daß man ihn aus meinem Leben verbannt hatte. Daß alles, worüber man schwieg, zu wichtig war, um gesagt werden zu dürfen. Doch je weniger ich wußte, desto größer wurde meine Wißbegier. Ich mußte ihn sehen. Wenn ich etwas über meinen Vater wissen wollte, mußte ich André aufsuchen und mit ihm sprechen.
Niemand sollte merken, daß ich den Karton hinter dem Foto entfernt hatte, obwohl es unwahrscheinlich war, daß sich irgend jemand dafür interessierte. Ich bog die Nägel wieder zurecht, diesmal mit weniger Geduld. Danach sah alles aus wie zuvor. Das Bild stand da, wo es immer gestanden hatte. Das Porträt meines unbekannten Vaters, der sich im Alter von vierundzwanzig Jahren auf eine Weise ausgelöscht hatte, die ausschloß, daß es sich dabei um einen Unfall handelte. Mehr als eine Handvoll Schlaftabletten waren damals nicht nötig, wie man mir erzählt hatte.
Am nächsten Morgen schlug ich das
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