Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
Haut meines Vaters hob sich dunkel von der weißen Badehose mit dem breiten Gürtel ab, ein schlaksiger, mittelgroßer junger Mann, dessen Gesicht unter der breiten Krempe eines Strohhuts ausdruckslos war. Augen und Nase waren verdeckt, deutlich zu erkennen waren die vollen Lippen des halb geöffneten Mundes und das runde Kinn. Um den Hals trug er eine dünne Muschelkette, die er vermutlich bei einem Strandverkäufer erworben hatte, vielleicht beim selben Mann, der später das Foto geschossen hatte. Auf diesem Foto war er allein, rechts im Bild lag ein Gummiball, ein einzelner fremder Fuß hatte sich links ins Bild geschoben.
Nicht die Menschen auf den Fotos, sondern die Fotos selbst spielten hier die Hauptrolle. Sie waren der Beweis dafür, daß die abgelichteten Menschen tatsächlich in der Fremde gewesen waren, wo sie sich, Hunderte von Kilometern von zu Hause entfernt, an Orten aufgehalten hatten, wie es sie zu Hause nicht gab, wo Menschen auf sie warteten, die das Meer nur von anderen Fotos kannten oder im Kino gesehen hatten, und denen man später anhand dieser Bilder erklären würde, wie es dort wirklich gewesen war, was man aß, was man trank, wie es roch, was anders war als zu Hause, die Hitze, das Salz und der Sand.
Es waren, wie gesagt, lediglich Schnappschüsse. Darauf sah man meine Mutter und meinen Vater, ein paar Fremde, alle in Badeanzügen, dazu das Meer, den Strand, ein winziges Strandcafé, bestehend aus Sonnenschirmen, Stühlen undTischen sowie einem Reklameschild für Crêpes und Eis. Ich kannte das alles, denn seit ich denken konnte, fuhren wir jedes Jahr in den Süden, wenn auch nicht nach Frankreich. Aber nie kam meine Mutter während dieser Reisen auf meinen Vater zu sprechen, nie hörte ich sie sagen: Da waren wir auch, oder: Das erinnert mich an deinen Vater, nie nahm ihre Miene einen träumerischen Ausdruck an, wenn sie über ihn sprach. Sie hatten ihren einzigen Sommerurlaub in Frankreich verbracht, ihre kurze Hochzeitsreise hatte sie nach Venedig geführt.
Wenn sie über ihn sprach, tat sie es, wie mir schien, um mir einen Gefallen zu tun, nicht um die Erinnerung an ihn aufzufrischen, meinetwegen, nicht ihretwegen. Ihre Erinnerungen waren fast zwanzig Jahre alt. Ich wußte nicht einmal, ob die Urlaubsfotos vor oder nach ihrer Hochzeit entstanden waren. Zu jener Zeit war es nicht üblich, daß Verlobte ihren Urlaub gemeinsam verbrachten. War sie damals schon schwanger? Es existierte kein Hochzeitsfoto. Waren es Fotos von ihrer Hochzeitsreise?
Sicher waren Hochzeitsfotos gemacht worden, aber wahrscheinlich hatten auch die sich in der verschollenen Mappe befunden. Die Fotos, die anläßlich der Hochzeit meiner Mutter mit Roland entstanden waren, gab es hingegen noch. Vielleicht aus Rücksicht auf mich standen sie nicht an prominenter Stelle, sondern wurden im Sekretär aufbewahrt, zwei Fotos, datiert auf August 1957, ich war damals drei Jahre alt. Drei Jahre nach dem Selbstmord meines Vaters hatte meine Mutter zum zweiten Mal geheiratet.
Wie lange war sie mit meinem Vater glücklich gewesen, wie glücklich war sie mit ihm, hatte er mit Rücksicht auf ihren Zustand meine Geburt abgewartet, bevor er seine Entscheidung traf?
Der Kontakt zu meinem Großvater väterlicherseits warnicht völlig abgebrochen, auch nicht, als er ein Jahr nach dem Tod meiner Großmutter nach Lugano gezogen war und ein paar Jahre später wieder geheiratet hatte. Aber es war nicht einfach, die Beziehung über diese Entfernung aufrechtzuerhalten. Regelmäßig zum Geburtstag schickte er eine Karte, aber eine Einladung, ihn im Tessin zu besuchen, erfolgte nicht. Seine alte Heimat schien er nicht zu vermissen, und so konnte ich mich kaum an ihn erinnern. Bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr erhielt ich nebst einem Hunderter farbige Ansichtskarten mit Seeblick und Bergen und »Grüße aus Lugano und alles Gute zu Deinem Geburtstag, Gott beschütze Dich Dein Opa«, Worte, die mir manchmal ein Gefühl gaben, als striche eine Hand über mein Haar, etwas, was Roland nie tat und wogegen ich mich wahrscheinlich gewehrt hätte, hätte er es versucht. Das Gefühl war stark, hielt aber nicht lange an. Mein Großvater oder seine neue Frau horteten offenbar einen ganzen Packen dieser Ansichtskarten, jahrelang erhielt ich abwechselnd immer dieselben.
Wir hätten meinen Großvater auf der Durchfahrt in den Süden natürlich besuchen können. Warum wir es nicht taten, blieb ein Rätsel, das zu lösen mir nicht wichtig
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