Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
ihrem Schreiben eine offizielle Note zu geben. Wozu ein Brief? Ein gewöhnliches Schreiben an einen ungewöhnlichen Adressaten, den Geliebten des Sohnes. Die Briefmarke stellte den neuen Flughafen mit der Heckflosse einer Swissairmaschine im Vordergrund dar. Sie hatte den Brief wohl zu Hause geschrieben.
Er öffnete ihn, er wollte ihn unbedingt lesen, bevor Veronika aus der Küche kam. Sollte sie ihn nach dem Brief fragen, würde er behaupten, die Mutter eines Schülers habe ihm geschrieben. Post von besorgten Eltern war nicht ungewöhnlich. Lügen auch nicht. Die Schule und sein Beruf boten ihm viele Möglichkeiten. Die unschuldigen Schüler hielten ihm den Rücken frei.
Er überflog ihn, er las ihn. Den Brief zeichnete weder glaubhafter Zorn noch ehrliche Erschütterung aus, auch nicht Verzweiflung. Es war etwas ganz anderes. Zerstörungswut. Was er zwischen den Zeilen las, war genauso schockierend wie der eigentliche Inhalt. Es hielt sich die Waage. Das Papier schien in seinen Händen zu verbrennen. Die Buchstaben ähnelten winzigen Haken und Krallen, die sich vor seinen Augen auflösten. Unwillkürlich machte er sich ein Bild von ihr: dunkles Haar und weiße, narbige Haut. Ein Knoten oder eine Dauerwelle. Süßlicher Seifengeruch. Weiße Bluse, tailliertes Jackett. Er glaubte, nicht richtig zu lesen, zugleich wußte er, daß er es bereits erwartet hatte. Genau das. Nichts kam aus dem Nichts. Es hatte etwas damit zu tun, daß Sebastian unfähigwar, sein Kinder, Schlaf- und Liebeszimmer zu verlassen. Es kam von dort, wo sie sich vor der Welt versteckten.
Er stand da und blickte auf seine Hände. Sie zitterten so stark, daß das Papier raschelte, ein fremdartiges Geräusch in dieser gewohnten Umgebung, während in der Küche auf dem Herd irgend etwas gebraten wurde und eine sehnsuchtsvolle Stimme aus dem Radio »Si, mi chiamano Mimi« sang. Es roch nach Hammelfleisch und Parfum. Ihm wurde beinahe übel. War das Veronikas Duft?
Die Worte waren klar und besagten, daß sie durch eigene Anschauung – sie verwendete in ihrer unbeholfenen, aber um Seriosität bemühten, geschraubten, fehlerhaften Sprache tatsächlich dieses Wort – durch eigene Anschauung leider davon erfahren musste, wessen Geistes Kind Sie sind, ein Lump, verdorbener Verführer, dem es noch leid tun könnte, sich meinem Buben genähert zu haben, ihn zu verführen und genötigt haben, so dass dieser nunmehr für immer gezeichnet ist, was man nicht gutmachen kann, wenn es einmal verloren ist.
Der Brief umfaßte zwei Seiten eines Blatts, von oben bis unten, von links nach rechts vollgeschrieben, sie hatte keinen Rand und keinen freien Raum gelassen, weder oben noch unten, weder links noch rechts, keinen Winkel, keinen Rückzug für andere Gedanken, keine weiße Stelle. Sie hatte sehr feines, wertvolles Papier mit Wasserzeichen benutzt, vielleicht hatte sie eine Papeterie aufgesucht oder ihren Chef darum gebeten. Oder sie hatte das Papier benutzt, das ihr Sebastian einst zum Geburtstag geschenkt hatte. Oder sie hatte es in der Gärtnerei entwendet. Sie würde alles getan haben, was in ihrer Macht stand, um diesen Brief schreiben zu können. Die Handschrift paßte nicht auf das Papier, sie wirkte fahrig und wurde zum Ende hin immer größer und breiter, so wie das, was sie schrieb,immer grober und aggressiver und besitzergreifender wurde: und ersuche ich sie hiermit darum, von meinem Sohn ein für alle Mal die Finger zu lassen, der fast noch minderjährig ist und wahrscheinlich, als Sie ihn verführten.
Während er noch nicht ganz erfaßte, was sie meinte und plante, während er noch nicht soweit war, zu erkennen, was in diesem Augenblick geschah, was in ihm vorging und was in ihr vorgegangen sein mochte, fragte er sich, weshalb sie sich wohl all der verschrobenen Floskeln befleißigte, wenn sie doch wußte, worauf sie hinauswollte, denn daß sie das wußte, lag auf der Hand. Weshalb hatte sie es dennoch darauf angelegt, eine Situation, von der sie keine Ahnung hatte, in ihre Worte, eine zeremonielle Sprache, zu übertragen, die nicht die ihre war? Und dann war der Satz nicht mehr zu überlesen:
Wenn Sie das nicht tun, werde ich sie Schmutzfink, Abschaum und Tunichtgut bei den Behörden und Eltern melden, so dann, das schwöre ich Ihnen, werden Sie Ihres Lebens nicht mehr froh werden. Bis an Ihr Lebensende, da können Sie ganz gewahr sein für den Fall, dass Sie meinen Buben nicht in Ruhe lassen mit ihren dreckigen Fingern, mehr will ich gar nicht
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