Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
Männer an einem Tisch, ausgehungert, verliebt und zuversichtlich.
Würde man es als Flucht bezeichnen, wenn sie nicht zurückkehrten? Welche Vorbereitungen würden sie treffen müssen? Welche Maßnahmen würden die anderen ergreifen? Wer hatte das Recht, über sie zu urteilen? Was war mit Emils Vaterschaft, über die sie auch hier nur flüchtig sprachen, wie würde Veronika mit der Situation fertig werden, welche Lügen wären nötig, um sie vor dem Gerede zu schützen, das entstünde, wenn die Wahrheit oder nur schon ein Teil der Wahrheit ans Licht käme? Diese Fragen zu beantworten war angesichts des Widerstands, den sie bei ihnen auslösten, unmöglich.
DasHochgefühl hielt bis zum 30. Dezember an, eine Woche lang, und weder der Regen, der gelegentlich fiel, noch die Tatsache, daß das Geld allmählich knapp wurde, konnte daran etwas ändern. Nur das unaufhaltsame Herannahen ihrer Heimkehr begann sie zu beunruhigen. So oft sie konnten, kehrten sie an den Ort zurück, an dem sie zum ersten Mal zu Abend gegessen hatten. Selten waren sie vor zwei Uhr morgens im Hotel.
André lud sie in seine weitläufige Wohnung in der Rue Blanche ein, die er seinem vermögenden Vater verdankte, der inzwischen gestorben war. Hier lebte er allein mit seiner Mutter, die sie aber nicht zu Gesicht bekamen. Sie verbrachte viel Zeit auf dem Land, aber wo sie sich zu diesem Zeitpunkt wirklich aufhielt, erfuhren sie nicht. Einmal waren viele andere junge Männer da. Es war laut, ein Grammophon spielte Jazz, man tanzte dazu, Emil und Sebastian, die zunächst wie Attraktionen bestaunt wurden, blieben jedoch nicht lange. Sie wunderten sich, daß die Nachbarn sich nicht über den Lärm beschwerten. Sie tanzten nicht. Sie fühlten sich fehl am Platz. André machte ihnen den frühen Rückzug nicht gerade zum Vorwurf, aber erfreut war er nicht. Möglicherweise hielt er sie für undankbar oder arrogant oder einfach für provinziell. Vielleicht war er der Meinung, ihnen etwas geboten zu haben, was sie nicht zu schätzen wußten.
»Wart ihr glücklich?« wollte Sebastian wissen, als sie an diesem Abend über André sprachen, und Emil mußte nicht lange überlegen.
»Auf eine kindliche Weise waren wir sehr glücklich. Zumindest am Anfang. Dabei waren wir keine Kinder mehr. Kinder tun das nicht, was wir taten. Es war etwas anderes. Wir waren Jugendliche voller Kraft. Ungestüme Jungen. Jedenfalls André. Ich wußte nicht, was ich wollte, ichwußte nur, was ich mußte. Ich dachte, es geht vorbei, wie die Klinikaufenthalte vorbeigehen würden.«
»Und heute«, fragte Sebastian.
»Jetzt ist es wieder etwas anderes.«
»Ich meine, weißt du es heute? Weißt du heute, was du willst?«
»Ja«, erwiderte Emil ohne Überzeugung.
Am nächsten Tag waren sie mit André verabredet, der darauf bestanden hatte, sie gemeinsam zu fotografieren.
»Ich finde, es muß sein«, hatte er gesagt, als er merkte, daß sie unschlüssig waren. Schließlich hatten sie, fast widerwillig, zugestimmt.
Er meinte, ihre gemeinsame Zeit brauche einen objektiven Zeugen, ein Foto sei ein unwiderlegbarer Beweis für das, was sei und was gewesen sei. Also kamen sie nachmittags zum Tee. Auf sein Drängen hin nahmen sie auf Andrés Bett Platz und schauten in die Kamera, über ihnen ein Himmel aus blauem Damast, der wolkige Abschluß eines Erbstücks mit vier gedrechselten Pfosten. An den Wänden hingen Stiche und Bilder älterer Meister, die mit dem Haus verwachsen schienen und sich vom Hintergrund kaum abhoben.
»Von meiner Großmutter«, sagte André und deutete auf den Betthimmel, und es kam ihnen vor, als halte das Leben für einen Franzosen wie ihn alle Feinheiten und Freiheiten bereit, während sie selbst nur so lange glücklich sein durften, wie sie zusammen waren.
Nachdem er mehrere Aufnahmen in seinem Schlafzimmer gemacht hatte, das fast so groß war wie Sebastians ganze Wohnung, wo er nichts zu verbergen habe, wie er maliziös behauptete, bat er sie, sich im unverfänglicheren Wohnzimmer vors Fenster zu stellen. Hier fotografierte er sie absichtlich gegen das fahle Winterlicht, so daß man lediglich ihre Umrisse sah, ihr Haar, ihre Schultern, aber nichtihre Augen und nicht ihre Münder. Er sprach von Sebastians Haar, und es versetzte Emil einen heftigen Stich, als er feststellte, daß André versuchte, Sebastians Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und einen noch heftigeren, als André zielbewußt auf Sebastian zuging und ihm eine Strähne aus der Stirn strich. Ein
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