Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
Blick genügte, um ihn in seine Schranken zu weisen. André lächelte herausfordernd, trat aber sofort einen Schritt zurück und machte sich wieder an seiner Kamera zu schaffen. Sebastian schien nichts von alledem bemerkt zu haben.
Eine Stunde lang hielten sie vor Andrés sich öffnender und schließender Linse durch, indem sie seinen Anordnungen und Bitten gehorsam Folge leisteten. In die Kamera sollten sie schauen, sich umarmen oder Rücken an Rücken stehen, niemand außer ihnen würde die Fotos je zu Gesicht bekommen, André versprach, sie nicht aus den Händen zu geben, außer »ihr erlaubt es, was natürlich heißen würde, daß ihr euch gegen etwas anderes entscheidet«.
Emil überhörte diese Anspielung, wie er sich überhaupt angewöhnt hatte, Andrés Seitenhiebe nicht zu beachten. Doch als André sie dazu aufforderte, sich vor der Kamera zu küssen, weigerte sich Emil, während Sebastian offenbar keine Meinung dazu hatte.
»Warum denn nicht«, sagte André, »was macht das für einen Unterschied? Das werden schöne Fotos.«
Ja, warum eigentlich nicht? Und so küßte Emil Sebastian auf die Lippen, und Sebastian erwiderte den Kuß so vorbehaltlos, als ob sie allein wären, und André drückte auf den Auslöser.
»Das war’s. Es reißt euch nicht die Seele aus dem Leib wie den Hottentotten«, sagte er. »Ein schönes Foto ist ein schönes Foto, egal, was es zeigt, egal, was andere meinen. Ihr seid zwei hübsche Jungs, das wißt ihr ja, aber«, er machteeine kurze Pause, »allmählich solltet ihr euch überlegen, wie es weitergehen soll.«
Sie konnten nur tun, als wäre der Satz nicht gefallen. Emil erwiderte nichts. Sie hatten verstanden, was er meinte, und André begriff, weshalb er vergeblich auf eine Antwort wartete. Ihrer befristeten Unbeschwertheit konnte dieser Schatten, der sie streifte, zunächst nichts anhaben. Aber dann nahmen die Stunden ab. Nur noch drei Tage. Zwei Tage. Die Zeiger der Uhr, die sie am Bahnhof mit unerbittlicher Gelassenheit erwartete, rückten unaufhörlich voran. Das tödliche Pendel Edgar Allan Poes senkte sich erbarmungslos auf Emils Brust.
Am vorletzten Abend gingen sie in die Oper. Sie machten sich fein, als wären sie ein Ehepaar. Sie sprachen über belanglose Dinge und stellten Vermutungen darüber an, was sie erwartete. Als die Lichter ausgegangen waren und das Gold und die Ornamente zum Verschwinden gebracht hatten, hielten sie sich im Dunkeln des Zuschauerraums aneinander fest. Es war Sebastians erster Opernbesuch, und auch Emil war noch nicht oft in der Oper gewesen. Die Oper, die sie sahen, kannten sie beide nicht. Così fan tutte , Mozart. Nach der Oper besuchten sie ein Lokal, in dem Männer Wange an Wange tanzten. André hatte es ihnen empfohlen. Die anwesenden Frauen entpuppten sich als geschminkte Männer. Zu Hause wäre das undenkbar gewesen, vielleicht hätte es sie dort sogar schockiert. Hier nahmen sie es, Wange an Wange, schweigend zur Kenntnis.
Erst als ihnen klar wurde, daß sich aus der abnehmenden Zahl von Tagen die letzten Stunden ihrer befristeten Freiheit immer deutlicher herausschälten, begannen die Schwingen jenes Schattens, der vor kurzem noch so schwach und unbedeutend gewesen war, lang, schwer und düster zu werden. Und plötzlich ließ er sich nicht mehrabschütteln. Das war Emils Eindruck. Um Sebastian nicht zu beunruhigen, ließ er sich nichts anmerken. Welche Empfindungen Sebastian heimsuchten, wollte er lieber nicht wissen.
Frühmorgens vor der Abreise, die am späten Nachmittag stattfinden sollte, wachte Emil auf. Er glaubte zu ersticken. Leise stand er auf, ging auf Zehenspitzen zum Fenster und öffnete es. Er schaute auf die unbelebte Straße hinunter und zündete sich eine Zigarette an. Und wenn wir jetzt springen würden, dachte er, hoch genug wäre es.
Was los sei, hörte er Sebastians Stimme hinter sich, fragend, etwas ängstlich, vielleicht auch verwirrt.
»Ich dachte, du schläfst, schlaf weiter«, gab er zurück, und dann: »Morgen früh sind wir nicht mehr da, dann ist alles«, er machte eine Pause, er wollte es nicht sagen, sagte es dennoch, »alles vorbei. Wir sollten das heute beenden.« Was er sagte, klang in seinen eignen Ohren unaufrichtig und zutreffend zugleich.
»So geht das nicht«, fügte er hinzu.
Hatte er das selbst gesagt oder einen anderen sagen lassen? Hatten sie diese Reise in der unausgesprochenen Hoffnung angetreten, im Lauf der wenigen Tage eine Entscheidung fürs Leben zu treffen? Nun war der
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