Zur Leidenschaft verfuehrt
scharf konturierten Oberlippe, die Unterlippe hingegen voll und sinnlich. Diese Beobachtungen stellte nicht die Frau, sondern die Künstlerin in ihr an. Gleichwohl war es die Frau, der angesichts der Sinnlichkeit dieses Mundes der Atem stockte. Wie mochte es sein, von so einem Mund geküsst zu werden? Würde in dem Kuss die Erbarmungslosigkeit dieser markanten Oberlippe mitschwingen? Oder eher das Versprechen der hübsch geschwungenen Unterlippe, das verhieß, die Frau mitzunehmen an einen Ort, wo die Leidenschaft triumphierte? Charley musste ein leises Aufstöhnen unterdrücken.
Unbeholfen versuchte sie sich von ihm freizumachen, was bei Raphael den Reflex auslöste, sie festzuhalten. Warum? Weil er für einen Sekundenbruchteil mit körperlichem Verlangen reagiert hatte? Das hatte nichts zu bedeuten, es war eine unwillkürliche Reaktion, mehr nicht. Raphael war stets peinlich darauf bedacht, seine Beziehungen zu Frauen so zu gestalten, dass die Spielregeln von Anfang an unmissverständlich klar waren. Es durfte dabei ausschließlich um die gegenseitige Befriedigung sexueller Bedürfnisse gehen, um sonst gar nichts. Das war für Raphael ein ehernes Prinzip, eine Frage der Ehre und des Verantwortungsgefühls. Daran konnte nichts und niemand etwas ändern und diese Frau schon gar nicht. Dennoch war ihm mit irritierender Deutlichkeit bewusst, wie schlank dieser Arm war, den seine Hand umspannte, und allein dieses Gefühl reichte aus, um sich zu fragen, wie sich ihre helle Haut wohl anfühlen mochte, mit den zarten bläulichen Adern, die sich über die Innenseite ihres Handgelenks zogen. Und plötzlich wünschte er sich, das Pochen ihres Pulses zu spüren, der sich bei seiner Berührung sichtlich beschleunigt hatte. Nackt würde ihr Körper wirken wie aus Alabaster, aber er würde warm sein, ganz warm.
Erbost über die Richtung, die seine Gedanken eingeschlagen hatten, rief er sich zur Ordnung. Und befahl sich, den plötzlichen Hunger zu ignorieren, der sich unangenehm bemerkbar machte.
Es war völlig unmöglich, dass er sie begehrte. Sogar ihr Name beleidigte seinen angeborenen Sinn für Schönheit.
„Charley. Das ist doch ein Jungenname“, sagte er in abschätzigem Ton. „Warum weigern Sie sich, eine Frau zu sein?“
„Ich … ich weigere mich ja gar nicht“, protestierte Charley matt. Wann ließ er sie bloß endlich los? Er hielt sie immer noch fest, obwohl es ihm unangenehm war, das wusste sie genau. Sie konnte es in seinen Augen lesen und sah es an dem verächtlich verzogenen Mund, der so kalt und grausam wirkte und dennoch … Wieder wurde sie von Empfindungen überschwemmt. Wie mochte es sein, von einem Mann wie ihm geküsst zu werden? Begehrt und gehalten und liebkost …?
Ihrer Kehle entrang sich ein kaum hörbares Seufzen, ihre Augen wurden türkis wie das Meer in der kleinen Bucht, an der seine Villa in Sizilien lag. Die unerwünschte Reaktion seines Körpers brachte ihn aus der Fassung, er verfluchte sich für seine eigene Schwäche. Du kannst sie nicht begehren, hämmerte er sich wütend ein. Es war einfach undenkbar.
„Keine italienische Frau würde sich so kleiden und verhalten wie Sie. Eine Italienerin ist stolz darauf, eine Frau zu sein.“
Das macht er absichtlich, dachte Charley. Er wollte sie verletzen. Was nur bedeuten konnte, dass sie auch in seinen Augen keine richtige Frau war. Sie war groß und dünn, unweiblich eben … schlicht nicht begehrenswert. Und das exakte Gegenteil dessen, wonach sie sich mit ihrem ausgeprägten Schönheitssinn immer gesehnt hatte und was sie als Künstlerin so gern selbst erschaffen hätte. O ja, sie konnte es ruhig zugeben: Es tat weh, zu wissen, wie wenig sie ihren eigenen Ansprüchen genügte. Früher hatte sie sich damit getröstet, dass sie, auch wenn sie selbst keine Schönheit war, so doch wenigstens etwas Schönes erschaffen könnte. Doch nicht einmal dazu war es gekommen. Auch wenn es ihre eigene Entscheidung gewesen war und sie es für ihre Schwestern getan hatte. Immerhin liebten ihre Schwestern sie so wie sie war, und sie liebte ihre Schwestern. Nur das war wichtig, nicht dieser Mann.
Dummerweise machte es ihr trotzdem etwas aus, als er sie jetzt losließ und ihr dabei einen weiteren angewiderten Blick nicht ersparte.
Während sie Raphael in den Palazzo folgte, wurde Charley peinlich bewusst, wie wenig ansehnlich sie wirken musste, in ihrer billigen Jeans, die schon beim Kauf nicht richtig gepasst hatte, und der viel zu weiten dunkelblauen
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