Zur Leidenschaft verfuehrt
Jacke, die ihr für die Arbeit im Garten praktisch erschienen war. Sie hatte sie nur über ihr T-Shirt gezogen, damit ihr Rucksack nicht so vollgestopft war. Und ihre Turnschuhe hatten schon seit einer ganzen Weile ausgedient, sie war nur noch nicht dazu gekommen, sich neue zu kaufen.
Doch sobald sie die riesige Eingangshalle mit den herrlichen Fresken an den Wänden und der Decke sah, trat der Gedanke an ihr Aussehen schlagartig in den Hintergrund. Die Gemälde leuchteten in frischen Farben und erweckten in Charley den Wunsch, sie zu berühren, um sie in ihrer ganzen künstlerischen Fülle angemessen würdigen zu können. Die unübersehbar von Meisterhand gemalten Szenen erzählten wohl eher Geschichten aus der italienischen Mythologie denn aus dem Christentum, vermutete sie. Die Bilder waren ein Fest für die Sinne. Charley war so überwältigt von ihrer Schönheit, dass ihr die Tränen kamen, die sie schnell wegblinzelte, bevor Raphael etwas bemerkte.
Raphael sah, wie sich ihre Augen weiteten und verdunkelten, während sie mit in den Nacken gelegtem Kopf andächtig die Fresken betrachtete. Ihr Gesicht begann von innen heraus regelrecht zu leuchten.
Aus unerfindlichen Gründen bekam er Herzklopfen. Dieses Fresko, das sie gerade so ehrfürchtig studierte, liebte er ganz besonders, und ihre offen gezeigte Bewunderung war eine Widerspiegelung seiner eigenen Gefühle. Aber warum um Himmels willen sollte ausgerechnet diese Frau mit ihrem praktisch nicht vorhandenen Schönheitssinn dem Fresko dieselben Gefühle entgegenbringen wie er? Das konnte nicht sein.
Und doch war es so. Er sah es mit eigenen Augen. Raphael beobachtete, wie sie gedankenverloren die Hand hob und näher an das Fresko herantrat, dann ließ sie den Arm wieder sinken. Damit hatte er nicht gerechnet. Sie war ihm alles andere als gefühlvoll erschienen und erst recht nicht wie eine Frau, die bereit wäre, diese Gefühle auch noch offen zu zeigen. Gleichwohl konnte er ihre Leidenschaft spüren, und er spürte auch, wie sich dadurch die Distanz zwischen ihnen verringerte. Ohne sie anzusehen wusste er, dass ihre Augen wieder diese stürmische blaugrüne Farbe angenommen hatten. Sie würde gleich ihre Lippen aufeinanderpressen, die wie sinnliche weiche Kissen erschienen, zu voll, um je eine harte Linie bilden zu können. Und so aufregend, dass jeder Mann, dessen Blick darauf fiel, in Versuchung geriet, von ihnen zu kosten …
Raphael fluchte innerlich. Er hatte einfach zu lange keine Frau mehr gehabt. Obwohl er sich nicht erinnern konnte, dass irgendwer jemals so emotional auf die Fresken reagiert hätte, so gefühlvoll wie seine Mutter, die ihre Liebe für die Wandmalereien an ihn weitergegeben hatte. Als Kind hatte sie ihn hochgehoben, damit er besser sehen konnte, während sie ihm mit warmer Stimme in blumigen Worten jede einzelne Szene erklärte. Damals war sein Leben von Liebe und Geborgenheit erfüllt gewesen … bis das Wissen um sein dunkles Erbe dunkle Schatten geworfen hatte.
So viel Schönheit, dachte Charley sehnsüchtig. Schönheit, nach der sie sich immer so gesehnt hatte. Sie versuchte sich auszumalen, wie es wohl gewesen sein mochte, Schüler eines so berühmten Künstlers zu sein, über das unschätzbare Privileg zu verfügen, ihm bei seiner Arbeit zusehen zu dürfen. Und dabei immer im Hinterkopf zu haben, dass sich die eigenen Arbeiten – auch nicht die unter größten Mühen erschaffenen – nicht einmal mit dem kleinsten Pinselstrich des Meisters messen konnten. Nur dass diese großen Meister natürlich niemals Frauen als Schülerinnen angenommen hatten … nicht einmal Wildfänge.
Endlich riss sie ihren Blick von den Fresken los und schüttelte immer noch ganz benommen den Kopf, bevor sie gedämpft zu Raphael sagte: „Giovanni Battista Zelotti, einer der größten Künstler seiner Zeit. Dieses Blau! Er hat sich sein Leben lang geweigert, die Zusammensetzung preiszugeben und nahm sein Geheimnis mit ins Grab.“
Raphael nickte. „Einer meiner Vorfahren hat ihn engagiert, nachdem er die Fresken gesehen hatte, die Zelotti für die Medici in Florenz gemalt hatte.“
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, eine Bewegung, die prompt Charleys Aufmerksamkeit erregte. Seine Handgelenke waren sehnig, und die mit seidigen schwarzen Härchen bedeckten Unterarme unterstrichen seine Männlichkeit noch. Charley verspürte ein verräterisches Ziehen im Unterleib. Wie mochte es sein, von so einem Mann berührt und gehalten zu werden? Er war
Weitere Kostenlose Bücher