Zur Leidenschaft verfuehrt
rasen.
Sie war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie den jungen Mann erst bemerkte, als sie um ein Haar mit ihm zusammengestoßen wäre. Sie spürte, wie sie rot wurde, und entschuldigte sich, was ihn veranlasste, seine Sonnenbrille abzunehmen und stehen zu bleiben. Als er lächelte, entblößte er eine Reihe strahlend weißer Zähne, während er mit einem anerkennenden Blick auf sie sagte: „Si bella, signorina.“
Er war fast noch ein Teenager, neunzehn vielleicht oder höchstens Anfang Zwanzig, hochgewachsen und schlaksig, mit dichten dunklen Haaren. Trotzdem musste Charley zugeben, dass sein Kompliment ihr schmeichelte.
Raphael, der die Szene aus nächster Entfernung beobachtet hatte, runzelte die Stirn, bevor er abrupt auf dem Absatz kehrtmachte und davonging. Was scherte es ihn, wenn andere Männer Charlotte Wareham attraktiv fanden?
7. KAPITEL
Was für ein wundervoller Nachmittag! Charley saß in einem kleinen Straßencafé und genoss ihren Cappuccino. Beim Anblick der langen Warteschlangen vor den Museen hatte sie beschlossen, sich für heute mit einem Rundgang zu begnügen, um erst einmal ein Gefühl für die Stadt zu entwickeln. Und so war sie durch die Via Tornabuoni zum Arno hinuntergeschlendert und am Flussufer entlang zur Ponte Veccio, vorbei an den Menschenmassen, die vor den Uffizien geduldig auf Einlass warteten. Bei einer Touristeninformation hatte sie sich einen Stadtplan geben lassen und war dann weiterspaziert bis zur Piazza della Signorina. Dabei hatte sie ab und zu eine Pause eingelegt, um sich umzusehen und die bezaubernde Atmosphäre der Stadt zu genießen.
Inzwischen war es vier Uhr geworden. Charley hatte noch eine Stunde Zeit, bevor sie den Rückweg antreten musste. Als ihr Blick auf eine junge Frau mit langem, glänzend schwarzem Haar fiel, hob sie gedankenverloren die Hand und strich sich über den Kopf. Die italienischen Frauen hatten so schönes Haar … Während des Stadtrundgangs hatte sie sich ihr eigenes Haar, das man in der Boutique so sorgfältig in Form gebracht hatte, wie üblich wieder zu einem Zopf im Nacken gebunden. Mit dieser schlichten Frisur wollte sich ihr neues Selbst plötzlich nicht mehr zufriedengeben. Warum sollte sie ihr Haar stets so fantasielos tragen, nur weil es praktischer war? Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, wurde ihr klar, dass sie sich eine Frisur wünschte, die zu ihrem neuen Ich passte. Sie erinnerte sich daran, dass sie auf ihrem Spaziergang an vielen Friseursalons vorbeigekommen war. Aber wie sollte sie den richtigen finden?
Von ihrem Platz aus konnte sie auf der anderen Straßenseite das Geschäft sehen, in dem sie vor ein paar Stunden mit Raphael gewesen war. Dort würde sie fragen, ob man ihr einen guten Friseur empfehlen konnte. Entschlossen trank Charley ihren Cappuccino aus, bezahlte und machte sich auf den Weg.
Raphael schaute auf seine Armbanduhr. Seit einer geschlagenen Stunde wartete er nun schon auf Charlotte. Erst hatte ihn ihre Unpünktlichkeit nur gewurmt, dann hatte sich dieser Ärger in Sorge verwandelt und war schließlich in Wut umgeschlagen. Wut, die er unter allen Umständen im Zaum halten musste.
Wut. Allein der Gedanke daran, wie gefährlich es war, ein solches Gefühl zuzulassen, verstärkte das, was er nicht zu fühlen versuchte. War das womöglich ein Ausdruck des Wahnsinns, der in seinen Adern pochte? Wut, die wuchs und wuchs, bis sie monströse Formen annahm und unkontrollierbar wurde? Die ihn am Ende dazu brachte um sich zu schlagen – anfangs nur im übertragenen Sinn und anschließend womöglich sogar buchstäblich, um jene zu treffen, die diese Wut entfacht hatten. Eine Wut, die er vor langer Zeit schon einmal bei sich entdeckt hatte und die er nie wieder spüren wollte.
Das Summen der Gegensprechanlage, gefolgt von Charleys Stimme, beendete seine Überlegungen. Schnell stand er auf und ging mit langen Schritten zur Tür.
Charley wollte eben ein zweites Mal klingeln, als die Tür plötzlich aufging und Raphael auf der Schwelle stand.
„Wo stecken Sie denn so lange?“, fuhr er sie ungehalten an. „Ich habe Sie spätestens um halb sechs zurückerwartet, und jetzt ist es fast sieben.“
Charley sah, dass er wütend war. „Ich weiß … es tut mir leid“, sagte sie verlegen. „Ich war beim Friseur und dachte nicht, dass es so lange dauert. Ich wollte Sie eigentlich anrufen, aber ich hatte Ihre Handynummer nicht.“
Sie war beim Friseur gewesen? Erst jetzt schaute Raphael auf ihr
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