Zur Leidenschaft verfuehrt
Blick nach unten, um langsam ihren Mund mit dem glänzenden rosa Lippenstift zu begutachten, den geöffneten Kragen ihrer Bluse, die kleine Vertiefung zwischen ihren Schlüsselbeinen, die eine ungewohnte Zartheit offenbarte. Aber noch immer wagte Charley es nicht, sich vollständig zu betrachten, aus Angst vor der Enttäuschung ihres Lebens. Die Boutiquebesitzerin wandte sich bereits zur Tür, um in den Vorraum zu Raphael zu gehen, und Charley wusste, dass sie keine andere Wahl hatte, als der Frau zu folgen. Erst im allerletzten Moment riskierte sie den gefürchteten Blick. Als sie ihr Spiegelbild sah, stockte ihr der Atem.
Tatsächlich . Ein Wunder war geschehen.
Wie war das möglich? Drehte sich die Welt wirklich immer noch? War diese makellos gepflegte, schlanke, sehr weibliche junge Frau mit den aufregend langen Beinen und den zierlichen Handgelenken tatsächlich Charley Wareham? Wie konnte ein schlichter Hosenanzug eine solch unglaubliche Veränderung bewirken? Oder bildete Charley sich das alles doch nur ein? Sah sie, was sie sehen wollte? Glaubte sie Raphael, weil sie ihm glauben wollte ? Hin und her gerissen zwischen Hoffnung und Verzweiflung blinzelte Charley die Tränen zur Seite, die ihre Sicht trübten. Es gab nur einen Weg es herauszufinden. Augen lügen nicht . So lautete eine alte Volksweisheit. Sobald sie vor Raphael stand, würde Charley die Wahrheit wissen.
Als sie den Vorraum betat, nahm Raphael seine Zeitung herunter und sah sie mit undurchdringlichem Gesicht an. Aber es war ihr unmöglich, in seinen Augen zu lesen. Irgendetwas, eine Art Groll gepaart mit Enttäuschung, stieg in ihr auf.
Und dann machte sie prompt auf dem Absatz kehrt – genauer gesagt auf den Absätzen der Schuhe, die man ihr passend zu dem Hosenanzug für die Anprobe zur Verfügung gestellt hatte –, ohne zu registrieren, wie zutiefst weiblich ihre instinktive Reaktion auf seine zur Schau gestellte Gleichgültigkeit war.
Raphael hingegen entging es nicht.
„Dann geben Sie also zu, dass ich recht hatte?“, hörte sie ihn trocken hinter sich fragen.
Charley wusste, dass es so war, aber sie konnte es nicht zugeben. Widerstrebend blieb sie stehen und drehte sich um.
„Meine Eltern …“, begann sie, doch Raphael unterbrach sie mit einer wegwischenden Handbewegung.
„Was immer Ihre Eltern jemals gesagt oder geglaubt haben mögen, spielt heute keine Rolle mehr. Es ist Geschichte. Nur die Schwachen machen die Vergangenheit für die Fehler der Gegenwart verantwortlich und verharren in dieser Pose. Die Starken erkennen die Fehler der Vergangenheit an und versuchen, es besser zu machen. Jeder Mensch kann sich entscheiden, ob er schwach sein will oder stark.“ Sein Blick forderte sie auf, ihre Wahl zu treffen.
Charley holte tief Atem, ihr war schwindlig. Ihr Kopf war ganz leer. Sie fühlte sich wie im freien Fall. Noch während sie zu verstehen versuchte, was da mit ihr passierte, hörte sie Raphael zu der Ladenbesitzerin sagen: „Wir nehmen alles.“
„Aber ich habe doch außer dem Hosenanzug noch gar nichts anprobiert“, protestierte sie matt.
„Nicht nötig. Ich bin mir sicher, dass alles passt, außerdem ist es inzwischen fast zwei, und wir haben noch nichts zu Mittag gegessen.“
Charley wusste, dass jeder Widerspruch zwecklos war.
Raphael war wütend auf sich selbst. Es war ein Fehler gewesen, mit Charlotte hier in dieses kleine Restaurant zu gehen. Das Verlangen, das ihn schon seit einer ganzen Weile quälte, schwächte ihn ungemein. Die Intimität des Lokals weckte in ihm die Sehnsucht nach der weit gefährlicheren Intimität seines Schlafzimmers und nach einer nackt in seinen Armen liegenden Charlotte. Die Wirkung, die sie auf ihn hatte, war schlicht irrational. Er hatte schon ganz anderen Frauen widerstanden, Frauen mit einer viel offensichtlicheren sexuellen Ausstrahlung. Aber die Sonne, die durchs Fenster fiel, überzog ihre Haut mit einem sanften Schimmer, was in Raphael den Wunsch weckte, ihren Hals zu berühren und seinen Zeigefinger in die kleine Mulde zwischen ihren Schlüsselbeinen zu legen, um dort das Pochen ihres Pulses zu spüren. Ja, er wollte sie. Und er wollte sie ganz, mit Haut und Haaren. Das war der reinste Irrsinn. Er durfte nicht zulassen, dass seine Begierde Besitz von ihm ergriff. Damit verstieß er gegen seine eisernsten Prinzipien.
„Ich habe jetzt gleich einige Termine.“
Charley atmete erleichtert auf. Endlich hatte Raphael das lastende Schweigen gebrochen, auch wenn seine
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