Zur Leidenschaft verfuehrt
könnte. Was hatte er sich selbst als Kind am meisten gewünscht, wenn er mit seinem Schmerz und seiner Angst konfrontiert worden war? War es nicht die Versicherung gewesen, dass es nichts gab, wovor er sich fürchten musste? Er hatte diese Versicherung nie erhalten – er hatte sie nicht erhalten können –, weil seine Mutter nicht die Macht gehabt hatte, etwas an seiner Abstammung zu ändern, an diesem dunklen Erbe, das in seinen Adern pochte. Trotz all ihrer Liebe hatte sie es nicht vermocht, ihn vor der harten Wirklichkeit zu beschützen. Das Bewusstsein einer Frau für ihre Weiblichkeit war elementar, davon war er fest überzeugt. Und obwohl er nicht wusste warum, verspürte er doch den Drang, in Charley dieses schlummernde Bewusstsein zu wecken. Gleichzeitig begann er jedoch zu ahnen, wie gefährlich dieses Vorhaben für ihn selbst werden könnte. Es gab da eine rote Linie, die zu überschreiten er sich nicht leisten konnte.
Er hatte immer noch die Möglichkeit, seine Meinung zu ändern. Er konnte …
„Also, die Entscheidung liegt natürlich bei Ihnen, aber ich finde, dass dieses Kleid wunderbar zu Ihnen passt. Sie haben genau die richtige Figur dafür, und Ihre Haltung ist auffallend gut … sehr elegant … was ja wirklich nicht jede Frau von sich behaupten kann.“
Zu spät. Er hatte die rote Linie überschritten. Und damit genau die Situation heraufbeschworen, die er am meisten fürchtete.
Charley konnte Raphael nur sprachlos anstarren. Sie bewegte die Lippen, aber sie brachte keinen Ton heraus. Raphael hatte ihr ein Kompliment gemacht. Raphael hatte ihre Figur, ihre Haltung gelobt. Raphael fand, dass dieses Kleid wunderbar zu ihr passte.
Sie wurde von einem atemberaubenden Gefühl überschwemmt, von einer Mischung aus Schwindel und Euphorie und der Ahnung grenzenloser Freiheit. Es war wie ein Dammbruch, bei dem die herabstürzenden Wassermassen alles Belastende, Schwärende und Vergiftete, das sie in sich fühlte, hinwegschwemmten, sodass Charley mit einem Gefühl herrlicher Schwerelosigkeit zurückblieb. Sie fühlte sich plötzlich so leicht, dass sie benommen an sich herunterschaute, so als ob sie sich zu ersten Mal sähe und es da etwas gäbe, das sie unbedingt verstehen müsste. „Elegant?“, wiederholte sie ungläubig.
Raphael nickte und sagte: „Aber ja. Probieren Sie es doch einfach an. Ich wette, dass Sie mir zustimmen.“
Für eine längere Diskussion unter vier Augen war keine Zeit. Die Besitzerin war zurückgekehrt, begleitet von einer ihrer Assistentinnen, die neuen Kaffee brachte – als Ausrede dafür, dass man sie allein gelassen hatte –, damit sie ihr Gesicht wahren konnte, wie Charley erkannte, während sie den beiden Frauen wieder in den Umkleideraum folgte.
Hier merkte Charley schnell, dass die Anprobe nur Teil eines ganzen Programms war. Zuerst bekam sie von einer anderen einschüchternd hübschen, schlanken, ebenfalls schwarz gekleideten jungen Frau ein Make-up verpasst, zu dem sie noch kein Urteil abgeben konnte, weil sie sich noch nicht im Spiegel gesehen hatte. Dann forderte man sie auf, einen der beiden schwarzen Hosenanzüge, kombiniert mit einer cremefarbenen Seidenbluse, anzuziehen, aber immer noch, ohne in den Spiegel zu schauen. Das sollte sie erst tun, wenn sie ganz fertig war. Vorher wurde noch ihr Haar ausführlich mit Fön und Bürste in Form gebracht. Betrieb man diesen ganzen Aufwand nur Raphael zuliebe? Oder weil man hoffte, sie möge einen hübschen Batzen Geld hierlassen? Charley zuckte in Gedanken die Schultern. Egal wie die Antwort auch ausfallen mochte, der Ausgang des Experiments war jetzt schon klar: Sie würde wie eine Karikatur ihrer selbst aussehen.
Doch als sie endlich fertig war und das Ergebnis aller Bemühungen im Spiegel sah, blinzelte Charley ungläubig. Was denn? Das sollte sie sein? Sie schüttelte benommen den Kopf. Das war schlicht unmöglich. Aber … eine Karikatur ihrer selbst war das auch nicht, sondern … sondern … Ihre Wimpern wirkten so lang und dicht, ihre Augen groß und leuchtend, die Farbe irgendwie viel intensiver als sonst, was nur an dem Lidschatten liegen konnte. Charley hielt sich noch eine ganze Weile bei ihrem Gesicht auf und versuchte, den Moment hinauszuzögern, in dem sie ihre gesamte Erscheinung wieder in Augenschein nehmen musste … nur falls sich herausstellen sollte, dass das vermeintliche Wunder nicht mehr als eine Sinnestäuschung gewesen war.
Wachsam und vorsichtig, fast ängstlich glitt Charleys
Weitere Kostenlose Bücher