Zur Leidenschaft verfuehrt
Stimme schroff und kalt klang. Sie nickte nur und beobachtete, wie er sich vom Kellner die Rechnung geben ließ. Warum war er plötzlich so abweisend? Hatte es irgendetwas mit dem Vormittag zu tun, oder bereute er es womöglich bereits, dass er sich bereit erklärt hatte, sie als Projektleiterin zu behalten? Sie versuchte sich auszumalen was wäre, wenn er jetzt plötzlich seine Meinung doch noch änderte. Die schiere Verzweiflung, die sie bei diesem Gedanken überfiel, sagte alles. Ihr wurde klar, dass sie sich nichts mehr wünschte, als an diesem Projekt arbeiten zu dürfen. Sie wollte zeigen, dass sie gut war, sie wollte sich beweisen.
Und sie wollte endlich sie selbst sein.
Dasselbe Gefühl von Ungläubigkeit und Schock, das sie vorhin beim Betrachten ihres Spiegelbildes verspürt hatte, ergriff auch jetzt wieder von ihr Besitz. Dabei wurde ihr bewusst, dass sie in ihrem tiefsten Innern schon seit geraumer Weile auf eine Gelegenheit wartete, ihr Selbstbild zu ändern. Sie wollte nicht mehr Charley der Wildfang sein. Doch dann kam immer wieder der Moment, in dem sie der Mut verließ und sie sich selbst davon überzeugte, dass sie sich etwas Unmögliches wünschte. Sie war einfach so wie sie war.
Aber jetzt konnte sie sehen, dass das nicht stimmte. Raphael hatte recht, wenn er sagte, dass sie eben nicht die war, die sie war, sondern die, die andere aus ihr gemacht hatten. Und genauso recht hatte er, wenn er sie ermunterte, sich zu verändern und sie selbst zu werden. Auch wenn die Vorstellung, diese alte Haut mit allen ihren Beschränkungen abzustreifen, beunruhigend, ja beängstigend war, war es gleichzeitig ein ungeheuer aufregender Gedanke, der ihr ungeahnte neue Möglichkeiten eröffnete. Sie musste nur den Mut aufbringen, die Gelegenheit zu ergreifen, die ihr das Leben bot.
Charley hatte sich immer gewünscht, die Toskana und Florenz kennenzulernen, und jetzt war sie hier. Sie hatte sich eine berufliche Tätigkeit erträumt, bei der ihre künstlerische Ader gefragt war, und die hatte sie bekommen. Sie hatte den Wunsch dazuzulernen und zu wachsen, als Künstlerin und als Mensch. Die Gedanken zuckten wie Blitze durch ihren Kopf, erhellten die hintersten Winkel. Sie hatte Gelegenheit, ihre italienischen Sprachkenntnisse zu perfektionieren, die Umgebung zu erforschen, sich in die florentinische Kunstgeschichte zu vertiefen und an dem Gartenprojekt zu wachsen. Hier konnte sie alles tun, alles sein, was sie sich jemals gewünscht hatte. Nur vor Raphael musste sie sich in acht nehmen, vor ihm musste sie sich schützen, und vor allem durfte sie ihn nicht begehren. Solange sie sich an diese Vorsichtsmaßregeln hielt, konnte sie von ihrem Aufenthalt in Italien nur profitieren. Und sollte sie in nächster Zeit womöglich beschließen, ihre Sexualität zu erforschen, musste sie sich damit abfinden, dass ihr Liebhaber gewiss nicht Raphael sein würde.
Nachdem er die Rechnung bezahlt hatte, sagte Raphael: „Ich schlage vor, Sie sehen sich am Nachmittag etwas in der Stadt um. Die Ortskenntnisse werden Ihnen nützlich sein, da Sie in Zukunft auch öfter allein hierher kommen müssen.“ Er schwieg kurz und ergänzte dann: „Dabei fällt mir ein, dass Sie unbedingt ein Auto brauchen.“
„Aber keinesfalls ein neues“, wandte Charley ein. Er hatte schon genug Geld für sie ausgegeben. „Und klein und wendig sollte es sein“, fügte sie hinzu, wobei sie an die engen Straßen von Florenz dachte.
Als sie in den von Sonne überfluteten Innenhof hinaustraten, erwog Charley, sich vielleicht eine neue Sonnenbrille zu leisten, weil ihre alte im Grund genommen schon seit Langem ausgedient hatte. Raphael setzte jetzt eine klassische Sonnenbrille auf, hinter deren dunklen Gläsern seine Augen fast vollständig verschwanden. Er war auch ohne Sonnenbrille ausgesprochen maskulin, und doch wirkte sein Gesicht jetzt noch kantiger und männlicher. Was wahrscheinlich der Grund dafür war, dass ihr Herz bei seinem Anblick einen Satz machte. Glücklicherweise fand Raphael sie nicht anziehend, sonst könnte ihr dieser mit Experimentierlust gepaarte Wagemut, den sie ganz neu bei sich entdeckt hatte, sehr schnell zum Verhängnis werden …
Und dann? fragte sich Charley, während sie auf den Marktplatz zusteuerte, nachdem sie und Raphael sich vor dem Restaurant getrennt hatten. Wäre sie wirklich bereit, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und sich auf eine Affäre mit ihm einzulassen? Allein bei der Vorstellung fing ihr Herz an zu
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