Zur Sache, Schätzchen (German Edition)
sie an sich heranlassen würde, streckte Roxanne den Arm aus und rieb ihm den Nacken. “Sprich mit mir”, sagte sie sanft. Wegen Augie, der auf dem Stuhl neben Tom schlief, während sie auf das Ende der Operation warteten, senkte sie die Stimme. “Ich möchte dir gern helfen.”
“Sein Name ist Hector Menendez”, beantwortete Tom ihre unausgesprochene Frage. “Jeder nennt ihn jedoch Padre, weil er als junger Mann Theologie studiert hat und Priester werden wollte.” Er fuhr mit dem Daumen über den Rand seiner Kaffeetasse. “Er leitet die Second Chance Ranch.”
“Ich dachte, die Ranch gehört dir.”
“Nein. Sie gehört dem Padre. Ich bin dort aufgewachsen. Habe fast mein ganzes Leben dort verbracht.” Sein Blick huschte über ihr Gesicht. “Es ist ein Heim für straffällige und ausgesetzte Kinder.”
Aus großen Augen sah Roxanne ihn an. “Du bist ausgesetzt worden?”
“Ich war ein straffälliges Kind”, korrigierte er. “Meine Mutter war kaum fünfzehn, als ich zur Welt kam. Sie war unverheiratet, hatte keine Schulausbildung. Sie hat ihr Bestes getan”, er zuckte mit den Schultern, “… aber das reichte einfach nicht. Mit zehn Jahren hatte ich schon die ersten Erfahrungen mit der Polizei gesammelt.”
“Was kann ein zehnjähriges Kind denn anstellen, dass es Probleme mit der Polizei bekommt?”, fragte Roxanne ungläubig.
Das zeigt, dachte er, wie wenig Erfahrung sie mit den Schattenseiten des Lebens hat. “Ladendiebstahl, Vandalismus, Schulschwänzerei. Alles Kleinigkeiten, aber mit zwölf wäre ich ein Schwerverbrecher gewesen, wenn sie mich nicht dem Padre übergeben hätte.”
“Sie hat dich ausgesetzt?”
“Sie hat mich gerettet”, sagte er. “Sie war mit mir überfordert und wusste es. Der Padre gab mir die starke Führung, die ich brauchte. Er gab mir Aufgaben, lehrte mich Selbstdisziplin und Selbstkontrolle, sorgte dafür, dass ich meine Hausarbeit erledigte und zur Schule ging. Wenn er nicht gewesen wäre, würde ich heute Hengste beim Gefängnisrodeo in Huntsville reiten. Stattdessen ging ich ans College, wurde Lehrer und habe mir ein anständiges Leben aufgebaut.”
“Und deine Mutter? Was ist mit ihr geschehen?”
“Sie ist nach Dallas gezogen und hat dort einen Job gefunden. Dann hat sie die Abendschule besucht, um bessere Möglichkeiten zu haben. Sie ist jetzt Krankenschwester im Presbyterian Hospital.” Sein Stolz darauf war nicht zu überhören.
“Hast du je wieder bei ihr gelebt?”
Tom schüttelte den Kopf. “Bis sie endlich auf die Beine gekommen war und in der Lage gewesen wäre, ein Zuhause für uns beide zu schaffen, war ich schon auf dem College.”
“Und dein Vater? Wo ist er?”
“Der Padre ist der einzige Vater, den ich je hatte. Der einzige, den ich brauchte”, sagte er und musste plötzlich gegen Tränen ankämpfen. Nur mit Mühe gelang es ihm, sie zu unterdrücken. Cowboys weinten nicht, egal, wie sehr es schmerzte.
Ohne etwas zu sagen, legte Roxanne ihre Hand in seine. Wortlos nahm Tom sie und verschränkte seine Finger mit ihren.
Zweieinhalb Stunden später betrat der Chirurg das Wartezimmer. Tom sprang auf und zog Roxanne mit sich. Augie erwachte und blinzelte schlaftrunken.
“Er hat es geschafft”, sagte der Arzt und beantwortete damit die Frage, bevor sie überhaupt gestellt worden war. “Und nein, Sie können ihn noch nicht sehen”, sagte er, denn dies war die Frage, die immer als Nächstes gestellt wurde. “Er ist noch im Aufwachraum und wird dort auch bleiben, solange die Narkose anhält. Erst dann bringen wir ihn in sein Zimmer, und Sie können ihn ein paar Minuten sehen. Aber er wird noch weggetreten sein und sich später nicht daran erinnern, dass Sie bei ihm waren. Ich schlage vor, Sie fahren jetzt nach Hause, schlafen etwas und kommen heute Abend nach dem Essen wieder. Dann wird er etwas Gesellschaft vertragen können.”
Einige Meilen vom Krankenhaus entfernt verließen sie die zweispurige Asphaltstraße und bogen in einen Schotterweg ein, den ein hoher torloser Bogen überspannte. Der Bogen trug dieselben Insignien – die römische Zahl II über einem großen C –, die auch den blauen Pick-up zierten. Am Ende der Straße, etwa eine viertel Meile entfernt, wie Roxanne schätzte, schienen Bäume und einige Gebäude zu stehen.
Als sie sich ihrem Ziel näherten, erkannte Roxanne eine große Scheune und zwei kleinere Gebäude. Vielleicht eine Schlafbaracke oder ein Hühnerstall oder eine Werkzeugkammer, dachte sie.
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