Zurück ans Meer
aber nicht Ihr gesamtes Leben
sind.
Bei meinen Reisen oder den Erfahrungen, die ich in meinem Leben machte, musste ich mir zwangsläufig Rechenschaft darüber ablegen,
was sich überlebt hatte und was nicht gelebt worden war. Nach und nach ließ ich alles los, was vorbei und beendet war. Damit
konnte ich Platz schaffen für neue Ansätze sowie bisher ungelebte Möglichkeiten und sie willkommen heißen.
Wir sind dazu geboren, wir selbst zu sein – mit dem Bedürfnis, unsere Gene aufzurüsten –, also immer wieder zurückzuschauen und uns mit der Person anzufreunden, die wir einst werden wollten. Das Leben formt sich
ständig neu, genau wie das Meeresufer. Das Kunststück besteht darin, die Veränderungen zu begrüßen und dann mit ihnen zu arbeiten,
nicht gegen sie anzugehen, und damit unsere angeborenen Stärken zu vertiefen. Alle Stadien, die Frauen durchlaufen,zu kennen, anzunehmen und zu zelebrieren – wie wir unsere Ängste überwunden haben, unsere ganz eigene Entschlossenheit respektierend –, das ist der Treibstoff, den wir brauchen, um unsere unabhängigen Reisen fortzusetzen. Das Ziel besteht darin, in der Mitte
des Lebens mündig zu werden, statt bis an unser Ende ziel- und energielos dahinzudümpeln. Es geht darum, unser Leben nach
unserer eigenen Vorstellung umzukrempeln.
Die zweite Reise
Sackgasse
September
Die Ankunft an einem Ziel schafft immer einen Aufruhr,
der nichts mit den Vorstellungen zu tun hat,
die man sich zuvor gemacht hat.
David Whyte
An einem strahlenden Septembermorgen sitze ich entspannt auf einer Terrasse am Rande der Salzmarsch, Kaffeetasse in der Hand,
die Füße auf dem Geländer und mehr als bereit für einen Vormittag mit den neuesten Neuigkeiten von Ro und Susan, zwei meiner
engsten Freundinnen auf Cape Cod. Ich atme tief durch, schaue hinaus auf das Salzgras, das sich nun, da die Sonne höher steigt,
in ein flammendes Orange verwandelt, und denke darüber nach, warum ich Cape Cod so liebe – vor allem diesen besonderen Fleck,
an dem ich, wenn der Wind richtig steht, das Donnern des Atlantiks in der Ferne höre. Hier, in einem Moment wie diesem, verspüre
ich ein tiefes Gefühl der Harmonie. Ich bin mit der Welt im Reinen.
»Also«, legt Susan los, sobald der Korb mit den Croissants die Runde gemacht hat, »du hast es tatsächlich auf die Terrasse
geschafft – zum ersten Mal seit drei Monaten.« Mit einem Ruck wende ich mich von der Landschaft ab und dem sarkastischen Ton
zu, den ich in ihrer Stimme wahrnehme, und bin verblüfft über den ernsten Ausdruck auf den Gesichtern der beiden.
»Was willst du damit sagen?«, frage ich, nehme einen Schluck Kaffee und warte auf eine Antwort, die nicht kommt. Ich bin in
der Stimmung für einen längst überfälligen Schwatz, einen dieser gemütlichen Vormittage, die wir regelmäßig abhielten, bevor
die Lesereisen für mein letztes Buch und das Schreiben des neuen dazwischenkamen. Aber offensichtlich wollen sie mich ins
Gebet nehmen. Ich kenne die Zeichen nur zu gut. Allem Anschein nach kann ich in letzter Zeit niemanden mehr glücklich machen.
Ende August, nach dem jährlichenFamilientreffen, beschwerten sich meine Kinder bei der Abreise, ich hätte die ganze Zeit so abwesend gewirkt, meine einundneunzigjährige
Mutter kommt jeden Morgen vorbei und seufzt laut, wenn ich sie daran erinnere, dass ich arbeiten muss, und meine Agentin quält
mich ständig mit bevorstehenden Abgabeterminen. Ganz gleich, wie hart und schnell ich in die Pedale trete, dauernd habe ich
das Gefühl, zurückzurollen, während ich bergauf strampele.
»Ihr zwei wisst doch, wie viel Arbeit ich momentan habe«, sage ich, ohne meine Enttäuschung zu verhehlen. Beide hatten, bevor
sie sich nach Cape Cod zurückzogen, Berufe, in denen sie unter Hochdruck standen. Susan war Fernsehproduzentin und Ro Marketingleiterin.
Beide Frauen haben außerdem Kinder großgezogen und Ehen geführt. Sie kamen müde, ausgelaugt und abenteuerlustig auf das Cape.
Wir sind Kajak gefahren, haben Strandwanderungen gemacht, waren zusammen einkaufen und haben uns Geheimnisse anvertraut. Für
gewöhnlich haben sie Verständnis für meinen übervollen Terminkalender, und sie sind die Ersten, die ich anrufe, wenn ich festhänge
und einen ordentlichen Marsch durch den Wald brauche, um meine Gedanken zu ordnen. Daher bin ich erstaunt über die Schärfe,
die in der Luft hängt.
»Hier geht es um mehr als um deine Arbeit,
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