Zurück ans Meer
Zustand meines Herzens aufzeichnet. Nach ein paar Minuten nimmt sie mir geschickt die Elektroden ab und teilt mir
mit, ich dürfe mich wieder anziehen. Ich rutsche von der Liege, streife meinen Rollkragenpullover über, fahre mir mit einer
Bürste durchs Haar und gehe, ohne am Empfang einen weiteren Termin auszumachen. Einstweilen werden die Medikamente die Sache
regeln. Schließlich geht es nur um den Blutdruck, nichts, was einen Krankenhausaufenthalt oder eine Operation erfordert, rede
ich mir ein. Außerdem sollte ich in einer Stunde unterwegs sein, und ich muss noch packen und mich von meinem Mann verabschieden.
»Wie ist es gelaufen?«, fragt er und schaut über den Rand seiner Zeitung.
»Ach, ganz gut«, erwidere ich beiläufig, während ich zum Schlafzimmer eile. »Da ist immer noch die Sache mit dem Blutdruck,
aber das lässt sich ohne Weiteres durch Medikamente korrigieren. Ich muss einen Stresstest machen, wenn ich zurück bin, und
vielleicht zum Kardiologen. Ich fand ihre Reaktion etwas übertrieben, wenn du mich fragst.«
»Das finde ich eigentlich nicht.« Seine strenge Stimme lässt mich innehalten. »Du bist ein außer Kontrolle geratener Zug,
Joan – du hältst nie an, du sagst nie Nein. Du fährst hierhin, fliegst dorthin, nur um noch einen verdammten Bestseller zu
landen. Du bist zu einer regelrechten Publicity-Hure geworden. Was ist denn mit ›präsent sein, ein einfaches Leben führen,
den Augenblick ergreifen‹ – deine Worte, nicht meine«, sagt er und klingt genau wie Ro und Susan. »Ich bin froh, dass man
dich erwischt hat. Das war längst überfällig. Die Frage ist nur, besitzt du genug Selbstachtung, um zuzuhören?« Und damit
wirft er seine Zeitung in den Müll, tippt sich salutierend an den Kopf und geht zur Tür hinaus.
Wie kann er es wagen, nach diesen Worten einfach zu verschwinden? Anscheinend glauben alle, ich würde das Tempo meines Lebens
genießen. Und davon mal abgesehen, was trägt er zu unserem Haushalt bei? Seit er in Pension ist, spielt er nur noch Golf und
arbeitet unentgeltlich für eine Reihe örtlicher politischer Ausschüsse. Ich weiß, dass er für diese Tätigkeiten vorher nie
Zeit hatte, aber sie nehmen mir nicht den Druck, die Rechnungen zu bezahlen und unser Sparguthaben zu erhöhen. Ich eile ins
Schlafzimmer, stopfe Toilettenartikel, Make-up und einen Jogginganzug in meine Übernachtungstasche. Je mehr ich über seine
abrupte Zurückweisung nachdenke, desto wütender werde ich. Warum erscheint mir meine Ehe jetzt schwieriger als zuvor? Vermutlich
hat es mit dem Sprichwort über Pensionierung zu tun: »Doppelt so vielEhemann für die Hälfte des Geldes.« Außerdem ist seine Terminplanung völlig unberechenbar. Mal spielt er Golf und geht zu
einer Gemeinderatssitzung und steht mir an dem Tag überhaupt nicht zur Verfügung, an den nächsten drei Tagen hängt er nur
im Haus herum. Ich weiß nie, was ich von ihm erwarten kann, und da er deutlich gemacht hat, wie sehr er seine neue Freiheit
schätzt, habe ich auch nicht gewagt nachzufragen. Wie auch immer. Diese Dinge können wahrscheinlich nicht auf die Schnelle
gelöst werden. Ich hinterlasse ihm eine kurze Nachricht, wo ich sein werde, und mache mich aus dem Staub – froh über diesen
Notausstieg.
Falsche Ziele
Anfang Oktober
Hüte dich vor dem, was du dir wünschst,
denn dein Wunsch könnte in Erfüllung gehen.
Anonym
Trotz der Hektik des Reisens muss ich zugeben, dass ich diese kurzen Touren genieße. Allein im Auto, kann ich meinen Gedanken
ein paar Stunden freien Lauf lassen, was jedem drohenden Wahnsinn stets Gestalt verleiht und Vergebung verheißt. Unterwegs
muss ich nicht jeden einzelnen Schritt erklären, und ich entkomme dem Druck, der mein Alltagsleben belastet. Ich weiß, dass
ich mich von jeder Idee oder Person, die in den letzten zwei Jahren an meine Tür klopfte, forttragen und versklaven ließ.
Wieder mal hat mich meine Neigung eingeholt, es stets allen recht machen zu wollen. Also werde ich jetzt mal die Nomadin spielen,
eine Rolle, die ich als Tochter eines Mannes perfektioniert habe, dessen Firma ihn alle zwei Jahre an einen anderen Ort versetzte.
Bewegung verleiht Energie. Außerdem braucht man sich nicht groß einzulassen, wenn man auf Reisen ist und mit den Orten und
Menschen nur vorübergehend in Kontakt kommt.
Ich bin noch kaum eine halbe Stunde auf dem Highway, als es sanft zu regnen beginnt und dichter Nebel die
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