Zurück ans Meer
erstaunlichen Weisheitsbrocken um dich, aber lebst duselber danach? Ro hat recht – du siehst abgespannt und müde aus.«
»Tja, vielen Dank für das Kompliment«, sage ich, perplex über ihre Offenheit und ratlos, wie ich darauf reagieren soll. Wie
das bei guten Freundinnen meist der Fall ist, kennen sie zu viele meiner Geheimnisse, aber ich bin nicht bereit, mich geschlagen
zu geben. Zwischen ihrer Erfahrung als Angestellte und dem Leben, das ich führe, gibt es viele Unterschiede, und ich möchte
immer noch so vieles tun. Ich muss mein Leben nur besser organisieren und mehr Kontrolle über meinen Zeitplan gewinnen. Ich
greife nach einem weiteren Croissant.
Allerdings bin ich neugierig, warum sie plötzlich so aufgebracht sind. Mir fällt ein, dass ein Sitcom-Star nach dem Ende ihrer
jahrelang gelaufenen Serie einmal sagte, sie hoffe, all die Freundschaften zu erneuern, für die sie während ihrer Arbeit keine
Zeit gehabt hätte. Ist es das, worum es hier geht?
»Habt ihr das Gefühl, ich habe euch links liegen lassen?«, frage ich.
»Nein«, erwidert Ro ein wenig zu schnell für meinen Geschmack. »Wir haben das Gefühl, du sonderst dich von deinem eigenen
Leben ab – gibst es fort und nimmst dir nichts von all den guten Sachen für dich. Das Leben, das du führst, muss verdammt
einsam sein, Bestseller hin oder her. Du bist an deinen Computer gekettet, und wenn du mal davon loskommst, landest du in
einem tristen Hotelzimmer.«
»Ja, wir vermissen dich«, fügt Susan hinzu. »Deine Kompetenz oder deine Amazon-Verkaufszahlen sind uns egal. Was ist mit der
guten alten Joan passiert – der locker-flockigen Frau, die gerne feiert, nackt im Mondlicht badet und zu viel Wein trinkt?«
Auch ich erinnere mich an diese Frau, und der Gedanke an sie bringt mich zum Lächeln. Trotzdem hat sich die Stimmung dieses
Morgens verändert, und jetzt fühle ich mich unbehaglich. Ich möchte distanziert bleiben und irgendwie so tun, alssprächen sie über jemand anderen, nicht über mich. Ro spürt wohl mein Unbehagen, weil sie rasch vom Hinweis auf das Problem
zu einem Lösungsvorschlag umschaltet.
»Also pass auf, ich möchte, dass du dich wieder beim Fitnessstudio anmeldest«, beharrt sie und überreicht mir die Anmeldekarte,
die sie wie zufällig aus der hinteren Hosentasche zieht.
»Und ich werde dich zum Tai-Chi mitschleppen«, fügt Susan hinzu.
Ich blicke sie beide entgeistert an. Ich gebe ja gern zu, dass ich das Tempo drosseln und Zeit für mich selber rausschlagen
muss. Aber ich muss auch meinen Schreibtisch aufräumen und dieses neue Buch planen, statt meinem Terminkalender auch noch
Sportstunden hinzuzufügen. Es stimmt ja, dass das Leben, das ich führe, seinen Glanz verloren hat. Doch heute wollte ich nur
einen schönen sonnigen Morgen erleben, die ruhige Gesellschaft guter Freundinnen genießen und die Möglichkeit haben, durchzuatmen.
Ich gehe zur Tür, umarme beide und danke ihnen für die Vorschläge. Auf der Heimfahrt werde ich von unerfreulichen Gedanken
überwältigt, zu denen auch ein immer wiederkehrender Traum gehört, den ich in der letzten Zeit gehabt habe. In dem Traum stehe
ich im Keller unseres Hauses, das dank seines Alters einen Erdkeller hat. Ich bin davon überzeugt, jemanden ermordet und die
Person in einer Ecke vergraben zu haben. Täglich besuche ich das Grab und bete darum, dass die Leiche rasch verwest, damit
mein Verbrechen unentdeckt bleibt. Aber nichts ändert sich. Wenn ich aufwache, habe ich immer Angst und bin mir sicher, das
Verbrechen begangen zu haben. Könnte es sein, dass die Person, die ich ermordet habe, ich selber bin?
Wie alles andere auch kann Wahrheit aufgehoben oder liegen gelassen werden, je nach Gemütszustand. Im Moment bin ich bereit,
mir anzuhören, was meine Freundinnen zu sagenhaben, doch mir fehlt die Kraft für eine eingehende Selbstbetrachtung. Außerdem muss es doch möglich sein, kleine Korrekturen
vorzunehmen, ohne gleich mein ganzes Leben neu zu bedenken. Jede radikalere Generalüberholung wird warten müssen, bis ich
dieses Manuskript beendet und die für die nächsten paar Monate bereits gebuchten Workshops hinter mich gebracht habe. Trotzdem
weiß ich im Grunde meines Herzens, dass ich verhindern muss, mich von meinen Zielen verschlucken zu lassen, wenn ich meine
Identität behalten will. Da ich diese Komplikationen selbst gewählt habe, kann ich auch nur mir selbst die Schuld geben.
Die Ampel
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