Zurück ans Meer
Joan«, sagt Ro. »Wenn ich in so einem Zirkus mit drei Manegen leben müsste wie
du, würde ich überhaupt nichts zustande bringen. Das ist der Grund unserer Besorgnis – du scheinst momentan dein schlimmster
Feind zu sein. Du bist zu einem Nimmersatt geworden – lädst dir ständig mehr auf den Teller, als du bewältigen kannst –, und diese Überlastung bringt dich um. Schau dich doch mal an, um Himmels willen. Wann hast du dir zum letzten Mal Strähnchen
machen lassen – vermutlich vor deiner letzten Lesereise. Du nimmst dir jedenfalls überhaupt keine Zeit mehr für dich.«
»Du hast drei Bücher geschrieben, zahllose Mut machendeReden vor Frauen gehalten und sie gedrängt, sich davon zu lösen, auf die Erwartung anderer Rücksicht zu nehmen, und gleichzeitig
tanzt du selbst wie wild nach der Pfeife anderer«, fügt Susan hinzu. »Das ist doch irgendwie verrückt – findest du nicht?«
Sie hat recht. Seit
Ein Jahr am Meer
zum Bestseller wurde, habe ich mein Privatleben und meine Bedürfnisse meiner Arbeit angepasst. Fünf Enkelkinder, ein pensionierter
Ehemann und die diversen Augen- und Magenoperationen meiner Mutter kamen sozusagen noch obendrauf. Von mir bleibt nie genug
übrig. Obwohl ich ihre Bemerkungen am liebsten mit einem Lachen abtun würde, will mir das nicht gelingen. Stattdessen beiße
ich mir auf die Zunge und wende mich wieder der Marsch zu, wo eine Fischadlermutter ihre Jungen zum Fliegen ermutigen will,
und spüre den Frieden, der mich überkommt, wann immer ich mich in der freien Natur befinde.
»Spiel jetzt nicht die Passive«, stichelt Ro, die mitbekommen hat, dass ich mich entziehen will.
»Mach ich nicht. Ich konzentriere mich nur auf das, was ihr sagt. Ziemlich heftig für einen frühen Morgen.« Die gute Laune,
mit der ich auf die Terrasse gekommen bin, sackt in sich zusammen. Ein solches Auf und Ab erlebe ich in letzter Zeit häufiger,
bin entspannt und gesprächig, wie noch vor einer Minute, nur um dann jäh in Erschöpfung und Trübsal zu versinken. Ich weiß,
dass diese Stimmungsschwankungen nur eine weitere Begleiterscheinung meines übervollen Zeitplans sind, bin aber völlig ratlos,
wie ich das ändern soll. Als ich mein erstes Buch schrieb, hatte ich keine Ahnung, dass Erfolg so hektisch machen würde. Naiverweise
dachte ich sogar, es würde mehr Freiheit bedeuten, aber ich weiß, dass ich nur so gut bin wie meine neuesten Verkaufszahlen.
Das Problem ist, ich mag meine Arbeit. Gewiss, ich verbringe mehr Zeit am Telefon, mit dem Beantworten von E-Mails , bei Treffen mit Fans und Geschäftspartnern und mit allem, was sonst nochnötig ist, um meine Arbeit zu fördern, als mit dem eigentlichen Schreiben, aber ich bin froh, mich so produktiv und erfüllt
zu fühlen.
»Hört zu, ich tue wirklich mein Bestes«, antworte ich abwehrend. Außerdem können sie leicht mit dem Finger auf mich zeigen:
Sie sind beide im Ruhestand, sind finanziell gut abgesichert und haben jede Menge freie Zeit. Mein Mann ist vorzeitig in Pension
gegangen, und seine Lehrerpension reicht oft nicht aus.
»Wir möchten nur, dass du dir klar machst, wo deine Prioritäten liegen«, fährt Susan ein wenig von oben herab fort. »Vergiss
nicht, wir haben das auch durchgemacht. Wir haben beide zugelassen, dass uns die Arbeit das Leben aussaugte, und wir möchten
dir nur helfen, bevor es zu spät ist. Wonach ich in meinem Job auch hergejagt bin, es lag immer um Haaresbreite außer Reichweite.«
»Mein Job war genauso«, wirft Ro ein. »Bevor ich in den Ruhestand gegangen bin, war mein Leben wie eines mit Reizdarmsyndrom
in einem Dilbert-Cartoon. Ich hatte nie die Möglichkeit, mich wieder aufzuladen. Die eine Marketingkampagne war noch nicht
ganz zu Ende, da fing schon die nächste an. Dauernd ging es um Termine – niemals um persönliche, wohlgemerkt, sondern die
vom Markt diktierten. Eine Weile versuchte ich, dieses Ungleichgewicht mit der Illusion zu rechtfertigen, welche guten Dienste
meine Firma den Menschen doch leistete. Aber all diese Ausreden verschwanden, als das Unternehmen, für das ich arbeitete,
am gleichen Tag Ben and Jerry’s Icecream und die Diätmarke Slim-Fast kaufte. Meine erste Reaktion war, habe ich dafür meine
besten Jahre hergegeben? Joan, wir möchten beide nicht, dass du unsere Fehler wiederholst.«
»Daher wird es Zeit, dass du dich fragst, was dich antreibt: das Geld oder die Botschaft?«, hakt Susan nach. »Du wirfst mit
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