Zurück ans Meer
mein Buch im Scheinwerferlicht zu
halten. Die schlechte Nachricht war, dass ich gar nicht genug unterwegs sein konnte – um zu werben und Druck zu machen, nichts
unversucht zu lassen, vor jeder Gruppe aufzutreten, die mir zuhören wollte, eine Buchhandlung nach der anderen zu besuchen.
Zwanghaft verfolgte ich die Rangliste von Amazon und addierte die Verkaufszahlen. Nachdem ich mich von den Unterstützern,
auf die ich gezählt hatte, im Stich gelassen fühlte, ging es mir eher darum, mich anderen zu beweisen, als meine eigene Botschaft
vom Wert des einfachen Daseins zu leben. Beinahe über Nacht wurde mir der Nervenkitzel der Herausforderung wichtiger als die
Weisheit, die mein Buch verficht. Geschäft, Geschwindigkeit, Arbeit an neuen Vorschlägen, dieser ganze Wahnsinn wurde zu dem,
was mich ernährte. Nicht nur eine Person von gewisser Prominenz, sondern auch eine Arbeitssüchtige war geboren. Jetzt, zehn
Jahre später, bekomme ich schließlich die Rechnung präsentiert.
Ein großer Laster überholt mich links, schleudert eine Wasserkaskade auf meine Windschutzscheibe, während ich das Steuer umklammere
und abrupt in die Gegenwart zurückgerissen werde. Nachdem ich das Auto ebenso wie meine Nerven wieder unter Kontrolle habe,
spüre ich, dass diese Reise etwas seltsam Vertrautes hat. Ich bin auf der Interstate 95unterwegs nach Süden, irgendwo auf Rhode Island, folge in umgekehrter Richtung genau derselben Route, die ich vor zehn Jahren
einschlug, als ich vor einer Ehe, die schal geworden war, und einem ausgebrannten Leben davonlief. Was für einen Unterschied
ein Jahrzehnt ausmacht – oder doch nicht? Die Ehe ist gekittet worden, und mein Leben ist nicht mehr leer. Aber ich bin nicht
weniger verwirrt, mein Leben ist nicht ausgeglichener, und ich gehe buchstäblich rückwärts – fahre in dieselbe Richtung, aus
der ich fortgelaufen bin.
Ich sehe das Schild für meine Ausfahrt und biege vom Highway ab. Ganz automatisch verkrampft sich mein Magen wie vor jedem
Auftritt. Schon oft habe ich mich gefragt, warum ich mich dauernd Situationen aussetze, die mich so verängstigen. Die Antwort
ist leicht – um im Spiel zu bleiben und erneut das große Los zu ziehen.
Die kleine Stadt Madison in Connecticut – eines dieser Neuengland-Dörfer, in denen alle Häuser aus der Zeit um 1810 stammen
und auf den Ladenschildern Wörter wie
Spirits, Mercantile
und
Medicinal
stehen – wirkt beruhigend auf meine Nerven. Am einen Ende des Dorfes gibt es einen Gemischtwarenladen und am anderen einen
Billigladen, einen Five-and-Dime mit einer altmodischen Zapfanlage für Limonade. Direkt vor der Buchhandlung entdecke ich
einen Parkplatz, nehme ihn und erblicke die Schaufensterdekoration mit einem Liegestuhl, Sonnenschirm, Sandhaufen, Muscheln
und natürlich Stapeln meines Buches. Ich fahre mir mit der Bürste durchs Haar, lege Lippenstift auf, atme tief durch, schüttle
meine schweren Gedanken ab und gehe zur Eingangstür.
Eine kleine Glocke ertönt, kündigt meinen Eintritt an, und eine Verkäuferin schenkt mir bereitwillig ein freundliches Lächeln.
Zügig marschiere ich durch den Laden, achte kaum auf die freiliegenden Ziegelwände, die raumhohen Bücherregale aus Mahagoni
und die antiken Tische voll mit den Herbst-Neuerscheinungen.Ich möchte möglichst lange unauffällig bleiben, daher begebe ich mich in das Lesezimmer, wo ich mich in einem Polstersessel
verstecken und meine Vortragsnotizen noch einmal durchlesen kann. Ich weiß, was ich sagen will – nur fürchte ich in solchen
Momenten immer, ich könnte etwas vergessen.
Obwohl mir öffentliche Auftritte nie angenehm waren, treiben mich stets die Worte meiner Freundin und Mentorin Joan Erikson
an. »Das Wichtigste ist, mit anderen das zu teilen, was du weißt. Sei generativ. Gib deine Erfahrung weiter. Nur so kannst
du etwas bewirken.« Fünfzehn Minuten später entdeckt die Veranstalterin mein Versteck und führt mich in einen mit erwartungsvollen
Frauen gefüllten Raum. Ich richte mich auf, straffe die Schultern und folge ihr.
Höflicher Applaus ertönt, als ich auf das Podium trete und meine Notizen auf dem Rednerpult ablege. Dann wird es unheimlich
still im Raum, und ich blicke in die erwartungsvollen Gesichter, eines nach dem anderen, als könnte ich sie irgendwie zu mir
heraufziehen, um mit ihnen die Verantwortung für die nächste Stunde zu teilen. In der Abgeschiedenheit meines Arbeitszimmers
einen
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