Zurück ans Meer
das Ausmaß beobachten können, in dem diese Freundschaft jeder von ihnen geholfen hat, ihr Leben besser in
den Griff zu bekommen. Die Verbindung zwischen diesen »Schwestern« ist etwas ganz Außergewöhnliches. Sie sind zu einer einzigen
großen Übergangsgruppe geworden – zum Beistand füreinander –, haben sich einen Zufluchtsort geschaffen, an dem sie neue Ideen ausprobieren können, fern von gesellschaftlichem Urteil.
Während ich sie von meinem Sessel aus beobachte, bin ich erstaunt, wie ermutigt sie alle wirken und wie wohl ich mich unter
ihnen fühle. Sie sind zwar nur gute Bekannte, und doch habe ich das Gefühl, als wäre ich spät nach Hause gekommen und sie
hätten das Abendessen für mich warm gehalten.
»Mensch, was für ein Vortrag!«, sagt Denise, nachdem sie mich gefragt hat, ob ich lieber ein Glas Weißwein oder Rotwein haben
möchte. »Ich lerne jedes Mal etwas, wenn ich dir zuhöre.« Sie ist munterer, als ich sie in Erinnerung habe, und der Wandel
ist erfrischend. Trotzdem gestehe ich ihr nicht, dass es ihr breites Lächeln war, das mich ermutigt hat, denVortrag zu halten, und lasse erst recht nicht durchblicken, dass ich wünschte, ich könnte mich selbst so inspirieren, wie
mir das bei anderen gelingt.
Ich mache es mir auf dem Sessel bequem, ziehe eine Decke über meinen Schoß, trinke einen Schluck Merlot und genieße den Augenblick.
Die anderen sind beschäftigt. Penny und Jeanie sind auf die verglaste Veranda gegangen, sie unterhalten sich flüsternd und
betrachten das aufgewühlte Meer, dessen Wogen bedrohlich hochschwappen, so als würden sie gleich durch die Fenster hereinströmen.
Leslie schneidet in ihrer winzigen und doch funktionalen Küche einen Schinken auf, während Denise, die Einzige mit Kindern
im Teenageralter, am Handy offenbar ein häusliches Drama lösen muss. Ich höre, wie Mindy Kate berät, und ihre Worte lassen
mein Herz schneller schlagen: »Warum unterschätzt du dich gerade jetzt? Du kannst alles tun, was du willst, wenn du es nur
wirklich willst.«
Ideen und Einsichten fliegen hin und her wie ein Ping-Pong-Ball bei einem harten Match – die hektische Art der Kommunikation,
die entsteht, wenn sich Freundinnen viel zu erzählen haben und wissen, dass ihre Zeit begrenzt ist. Ich kann gar nicht genug
bekommen von ihrem Geplapper. Immer wieder bin ich erstaunt über die Leichtigkeit des Seins, die Lebensfreude, das Aufblühen,
wenn Frauen endlich von allem befreit sind – von den Anrufen, dem Essenkochen, den endlosen Besorgungen und Listen. Ihre unkomplizierte
Verbindung erinnert mich an eine Frauengruppe, die ich vor einiger Zeit in New York gegründet hatte. Wir trafen uns, um über
Clarissa Pinkola Estés Buch
Die Wolfsfrau
zu diskutieren, und nannten uns die Wolfsweiber. Wir verbrachten unsere Abende damit, unsere Extreme zu hinterfragen und herauszufinden,
warum wir alle so blockiert waren, versuchten persönliche Ziele aufzustellen, nachdem wir uns ein Leben lang um die Ziele
anderer gekümmert hatten, wobei wir dieganze Zeit trotz unserer Tränen lachen mussten. Den Mond heulten wir zwar nicht an, aber wir benahmen uns wie wilde Frauen.
Doch eine solche Kameradschaft habe ich seit Jahren nicht mehr empfunden. Ro, Susan und ich haben viele, viele Geheimnisse
und Gefühle ausgetauscht und sogar ein paar verrückte Nächte miteinander verbracht, aber das geschieht viel zu selten und
mit langen Pausen dazwischen. Sie sind damit beschäftigt, ihr schwer verdientes Ruhestandsleben zu gestalten, während ich
immer noch arbeite. Vielleicht bin ich deshalb so erpicht darauf, in diesen Kreis hier einbezogen zu werden.
»Erzählt mir doch mal«, bitte ich Kate und Penny, die sich neben dem lodernden Kaminfeuer niedergelassen haben, »was alles
passiert ist, seit ich euch das letzte Mal gesehen habe.«
»O je, ich weiß nicht, wie ich das beantworten soll! Man könnte vielleicht sagen, dass wir uns alle in unterschiedlichen Stadien
der Trennung befinden – von Beziehungen, Jobs, Freundschaften«, erwidert Kate mit einem Lachen.
»Ja, Joan, an all diesen Veränderungen und Aufbrüchen bist du schuld«, stichelt Penny lächelnd. »Du bist diejenige, die immer
davon redet, sich vom Vertrauten zu entfernen, um den Geist wiederzubeleben. Tja, wir haben deinen Rat wörtlich genommen.«
»Aber das ist gut so«, fügt Leslie hinzu. »Ich glaube, wir alle kommen jeden Tag viel glücklicher nach
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