Zurück in die Zwischenwelt (German Edition)
Reste einer alten Mauer – wahrscheinlich die alte Grenze des Grundstücks.“
Neugierig folgten sie nun beide dem gepflasterten Weg hinauf, um sich das Ganze genauer anzuschauen; unterwegs sammelten sie die überdurchschnittlich großen Kastanien des alten Baumes auf. Fast alle Früchte waren von alleine aus den Igeln gesprungen – „eine weitere gute Eigenschaft mancher gezüchteten Sorten“, erklärte die Mutter. Als ihre Taschen mit Kastanien prall gefüllt waren, wollten sie zurückkehren – und da entdeckten sie die Ruine!
Nur noch Teile der Hausmauern standen. Der Rest davon – etwa fünfzig Zentimeter lange Natursteine – lag auf der Innen- und Außenseite verstreut. Das Dach, das einst auch aus Stein gebaut worden war, lag anscheinend seit langem eingebrochen auf dem Boden im Innern des „Gebäudes“. Aus der Hausmitte ragte ein etwa fünfzigjähriger Kastanienbaum empor. Vidya war sofort begeistert und machte sich augenblicklich auf Entdeckungsreise.
„Pass auf!“, rief ihre Mutter, als Vidya sich dem Haupteingang näherte. „Geh dort bitte nicht rein, es könnte noch mehr einstürzen.“ Das Mädchen lief einfach weiter.
„Ich habe Nein gesagt! Diesmal meine ich es ernst!“
Kurz vor der Türschwelle hielt Vidya an: „Oh, schade!“
Wo sich der Haupteingang befand, stand der größte Teil der Fassade noch. Die Holztür stand offen und war innen gegen die Mauer gelehnt. Vidya machte noch einen Schritt.
„Nein!“, rief ihre Mutter. Vidya blieb stehen.
Nun bemerkte sie die verwaschene Inschrift oberhalb der Tür. Anscheinend war sie in den Stein geritzt und dann bemalt worden – leichte Spuren von einer roten Farbe waren trotz der Verwitterung noch sichtbar.
„081? Mama, stand hier vielleicht eine Telefonnummer?“
„Nein, schau – hier gibt es noch eine Zahl davor und Buchstaben danach: ‚1908 L. O‘. oder ‚L. D.‘“
„Was für Initialen sind das?“
„Entweder die des Erbauers oder ein Witzbold hat sich hier verewigt. Gehen wir jetzt! Wir müssen doch noch alles für die Gäste vorbereiten.“
Als sie sich auf den Nachhauseweg machen wollten, fiel Vidya etwas Helles in der Naturmauer auf. Sie näherte sich der Mauer und holte es aus dem Zwischenraum zwischen zwei Mauersteinen heraus: Es war ein Brief.
„Du, Mama, schau! Ich hab einen Brief gefunden!“
„Einen Brief? Zeig mal.“
„Er ist noch geschlossen.“
„Und sogar mit zwei alten Briefmarken frankiert.“
„Nehmen wir ihn doch mit und werfen ihn in einen Briefkasten“, schlug Vidya vor.
„Du, ich weiß nicht ob sie diese Marken noch akzeptieren.“
„Wieso? Haben Briefmarken ein Ablaufdatum?“
„Ja. Und wenn sie nicht mehr gültig sind, muss der Empfänger eine kleine Buße bezahlen …“
„Okay, dann öffnen wir ihn.“
„Ich weiß nicht … Nimm ihn einfach mal mit, aber jetzt sehen wir zu, dass wir nach Hause kommen.“
Vidya steckte den Brief in ihre Tasche und sie machten sich auf den Weg.
Später am Abend saßen sie mit Freunden gemütlich vor dem Feuer und schälten die gegrillten Kastanien. Über dem Kamin hingen eine balinesische Maske und ein paar Zeichnungen von Pferden, die Vidya mit Bleistift angefertigt hatte. Sie war im Zeichnen sehr geschickt und konnte sogar Tiere in Bewegung perfekt auf dem Papier wiedergeben, als ob sie sie von einer Fotografie kopiert hätte. Dabei benutzte sie allein ihr bildliches Gedächtnis.
Auch Serena und Giacomo waren dabei, die Fiona noch von früher kannte – aus der Zeit vor ihrer „gescheiterten Auswanderung“. Fiona war erst vor wenigen Monaten nach Hause in die Schweiz zurückgekehrt und wollte diesen Anlass jetzt feiern. Der Abend verlief sehr still und bald hörte man nur noch das Knistern des Feuers, nachdem Vidya ein paar Kastanien verschlungen hatte und schon wieder weggegangen war.
„Nun erzähl mal, Fiona!“, unterbrach Serena die Stille. „Wie war es denn in Amerika?“
„Schön“, antwortete Fiona knapp und scheinbar emotionslos.
„Schön, aha …“, hakte Serena zögerlich nach. „Was ist denn passiert … mit Henry?“
„Nichts Spezielles, das Übliche halt.“
„Ach komm, erzähl schon!“ Beide Freunde schauten gespannt auf Fiona.
Fiona war damals, nach der Geburt der ziemlich aktiven Vidya, in eine Depression gefallen: Sie konnte nicht mehr schlafen und war bald mit den Nerven am Ende. Dazu kamen Reibereien mit ihrem Ehemann Henry, der viel zu sehr mit seiner Karriere beschäftigt war, und dazu die noch
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