Zurueck ins Glueck
verstand nicht viel von Kleidern, aber sie erkannte Qualität, wenn sie sie sah. Die älteren Frauen trugen cremeoder pastellfarbene, häufig mit Gold bestickte Kostüme; weiche Töne, die reifer Haut schmeichelten, wie sie schmunzelnd bei sich dachte, dazu zumeist die traditionellen Perlen. Die hübschen jungen Mädchen waren in
federleichte, in kräftigen, bunten Farben gehaltene Stoffe gehüllt, die sich eng an ihre schlanken Körper schmiegten. Am Mittelmeer oder in Florida verbrachte Urlaube hatten fast allen Gästen der Judges eine gesunde Bräune beschert. Tess musterte ihren Frank verstohlen. Ironischerweise sah er dank der harten Arbeit bei Wind und Wetter an Bord seines Kutters, der Ashling , mindestens ebenso gesund aus. Einen Moment lang wanderten ihre Gedanken zu ihrer eigenen geliebten Ashling, der einzigen Tochter, die Gott ihr geschenkt hatte. Sie war auf ihre drei Söhne gefolgt, und Tess hatte sie Ashling genannt – das irische Wort für ›Traumbild‹, weil ihr Traum von einem kleinen Mädchen endlich doch noch wahr geworden war. Doch der Traum war von kurzer Dauer gewesen; Tess hatte Ashling nur eine Stunde lang in den Armen halten dürfen, dann hatte Gott sie wieder zu sich gerufen. Der Tod der Tochter war die einzige große Tragödie in ihrem Leben. Tess wusste, dass sie über diesen Verlust nie hinwegkommen würde. Ein paar Jahre später war Frank in der Lage gewesen, seinen ersten bescheidenen Fischkutter zu erwerben, und er hatte seiner Frau vorgeschlagen, ihn The Ashling zu nennen. Sie hatte sich sofort einverstanden erklärt, weil auf diese Weise die Erinnerung an ihr kleines Mädchen, ihren Fleisch gewordenen Traum, am Leben gehalten wurde. Rasch verdrängte sie diese traurigen Gedanken. Ihre Söhne waren heute mit der Ashling hinausgefahren. Hoffentlich machten sie einen guten Fang.
Energisch konzentrierte sie sich wieder auf das Hier und Jetzt und strich mit beiden Händen über ihr Kleid, um nicht vorhandene Falten zu glätten. Dann zupfte sie an ihrem Haar, das sie sich noch heute Morgen frisch
hatte legen lassen. Frank drehte sich zu ihr um und zwinkerte ihr zu. Er hatte darauf bestanden, dass sie sich für diesen Anlass ein neues Kleid kaufte, und da sie sich seit Jahren nichts Neues mehr geleistet hatte, kam sie sich ausgesprochen elegant vor. Sie hatte das, was Frank als üppige Rundungen und einen stattlichen Busen bezeichnete, und war eigentlich ganz zufrieden mit ihrer Figur. Heute fiel es ihr allerdings schwer, ihre Körperfülle mit Stolz zu tragen. Außerdem war sie fast so groß wie ihr Mann, was allerdings den Vorteil hatte, dass sie die gesamte Kirche bis vorn zum Altar überblicken konnte.
Diese füllte sich zunehmend. Die Düfte kostbarer, schwerer Parfüms, die miteinander um die Vorherrschaft zu streiten schienen, erfüllten die Luft. Draußen ertönte ein lautes Getöse, als die Hubschrauber auf dem Vorplatz landeten. Dann stockte Tess der Atem, als die Präsidentin an ihr vorbeischritt und einigen hochrangigen Besuchern der kleinen Kirche lächelnd zunickte.
»Du lieber Himmel, das ist ja besser als alles, was man in der Glotze zu sehen bekommt«, murmelte Frank fast ehrfürchtig.
Tess zischte ihm zu, den Mund zu halten, denn nun rauschten Rose und ihr Mann James Judge der Zweite den Gang entlang. Rose war die Mutter des Bräutigams, und heute war ihr großer Tag. Sie schwebte so hoheitsvoll durch das Kirchenschiff, als sei sie ein Mitglied des Königshauses. Dabei hatte sie entschieden mehr Ähnlichkeit mit Joan Collins als mit einem der Royals. Obwohl sie ihre Einladung dankend angenommen hatte, mochte Tess Rose Judge nicht sonderlich. Niemand in Fiddler’s Point brachte ihr große Sympathie entgegen. Sie war eine hochnäsige, eingebildete Hexe und legte es heute ganz
offensichtlich darauf an, allen anderen Frauen die Schau zu stehlen. Ihr lilafarbenes Kostüm, natürlich ein Designermodell, saß perfekt, betonte ihre zierliche Figur und schmeichelte ihrem Teint. Ihre Augen funkelten wie Diamanten. Man sah ihr an, dass sie jede Sekunde ihres Auftritts in vollen Zügen genoss.
Doch dann wurde Tess’ Blick weich, denn nun geleitete Cameron seine Großmutter Victoria Judge zu ihrem Platz im vorderen Teil der Kirche, direkt hinter seinen Eltern. Eigentlich ist heute sein großer Tag, dachte sie liebevoll. Cameron war im Dorf aufgewachsen. Während ihrer Kindheit hatten er und Tess’ Söhne jeden Tag miteinander gespielt. Später hatten sich ihre Wege
Weitere Kostenlose Bücher