Zurueck ins Glueck
natürlich getrennt, denn Cameron war der Familientradition der Judges folgend nach England geschickt worden, um dort die Schule zu besuchen.
Die Delaney-Jungen Matt, Mark und Luke waren selbstverständlich in die hiesige Jungenschule gegangen, die sich in der zehn Meilen entfernten Stadt Wicklow befand. Obgleich der Kontakt zwischen den drei Delaneys und Cameron Judge nie ganz abgerissen war, verband sie heute nicht mehr die enge Freundschaft ihrer Kindertage und würde sich vermutlich auch nie wieder aufbauen lassen.
Tess sah gerührt zu, wie Cameron seine Großmutter behutsam zu ihrem Platz führte. Nicht dass sie wirklich auf seine Hilfe angewiesen wäre – sogar mit ihren über neunzig Jahren verfügte diese Frau noch über rasiermesserscharfen Verstand. Doch Tess registrierte betrübt, dass Victorias Körper dem Alter Tribut zu zollen begann; sie wurde allmählich doch recht gebrechlich. Zum ersten Mal benutzte die alte Dame zwei Gehstöcke statt einem.
Der Tag, an dem Victoria Judge starb, würde ein schwarzer Tag für Fiddler’s Point sein. Granny Vic, wie sie allgemein genannt wurde, lebte in Dunross, seit sie irgendwann um 1920 herum in den Judge-Clan eingeheiratet hatte. Sie glich einer weisen alten Eule und hatte weder mit Dummköpfen noch mit Rose viel Geduld.
Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass seine Großmutter bequem saß, wandte sich Cameron ab, um die Gäste zu begrüßen, die weiter in die Kirche strömten. Ein vollendeter Gentleman, der jede Situation unter Kontrolle hat, dachte Tess. Die meisten Männer waren blass, nervös und zappelig, während sie auf das Eintreffen ihrer Braut warteten. Nicht so Cameron Judge. Er strahlte jenes typische Selbstbewusstsein aus, das wohlhabenden, erfolgreichen Männern zu eigen ist, und erweckte den Eindruck, als würde er viel Zeit in der Kirche verbringen, so ungezwungen gab er sich. Aber der Schein trog. Es gehörte zu Camerons zahlreichen Talenten, sich überall dort, wo er sich gerade aufhielt, den Anschein geben zu können, als fühle er sich wie zu Hause.
Er war so groß wie sein Vater, nahezu eins neunzig, und immer leicht gebräunt, da er den Sommer in der Villa der Judges auf Barbados verbrachte. Im Winter lief er in der Schweiz und in Colorado Ski. Cameron sah überwältigend gut aus, fand Tess, er war athletisch gebaut, hatte seine Gesichtszüge aber von seiner Mutter geerbt. Seine Augen standen wie die ihren weit auseinander und schimmerten strahlend blau, doch sie funkelten überdies noch vor Humor und Lebensfreude, während Roses Augen stets kühl und abschätzend blickten. Seine Nase war wie die seiner Mutter ein wenig zu markant geraten, sein
Mund war breit, die Lippen voll, und wenn er lächelte, was er fast ständig tat, leuchtete sein ganzes Gesicht auf. Beiden gemeinsam war die klassische Knochenstruktur eines griechischen Gottes und ein wacher, rasch arbeitender Verstand. Doch Cameron verströmte überdies noch einen Charme, von dem sich die Menschen so unwiderstehlich angezogen fühlten wie Motten vom Licht. Auch Rose konnte sehr charmant sein, wenn sie wollte, aber bei ihr wusste man nie, ob sie liebenswürdige Worte ernst meinte oder nur das sagte, was ihr Gegenüber ihrer Meinung nach zu hören wünschte. Man wurde aus dieser Frau einfach nicht schlau und schon gar nicht mit ihr warm, dachte Tess.
Jeder der Anwesenden wusste, dass Cameron heute auch Geburtstag feierte, denn in fast allen Illustrierten war ausführlich über seine bevorstehende Hochzeit berichtet worden. Heute, am 30. September, wurde Cameron Judge, Irlands begehrtester Junggeselle, fünfunddreißig Jahre alt und stand im Begriff, eine bildhübsche junge Frau namens Samantha White zu heiraten. Alle waren sich einig, dass Samantha das glücklichste Mädchen der Welt sein musste.
Samantha war mit dem Anblick, der sich ihr im Spiegel bot, überaus zufrieden. Sie sah von Natur aus gut oder sogar mehr als gut aus, aber heute übertraf sie sich selbst.
Ihre beiden besten Freundinnen waren es leid, vor ihrer Zimmertür ausharren zu müssen.
»Es ist unsere Pflicht, dir zur Hand zu gehen, Miss White!«, rief Gillian durch die geschlossene Schlafzimmertür.
»Ich komme wunderbar allein zurecht, vielen Dank«, ertönte Samanthas Antwort.
Gillian schlug die Hände über dem Kopf zusammen und verschwand in ihrem eigenen Zimmer, um ihre Zigaretten zu holen.
»Was ist mit deinem Make-up? Sollte ich das nicht besser übernehmen?«, schlug Wendy vor. »Oder
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