Zurück nach Hollyhill: Roman (German Edition)
Blatt aus der Hand zu reißen und nach dem Datum zu sehen. Doch sie blieb sitzen und wartete. Als ihm die Flammen stabil genug erschienen, stand Matt auf und setzte sich wieder an den Tisch.
»Angenommen, das Leben ist eine gerade Linie, auf der alle Zeiten markiert sind.« Er fuhr mit dem Zeigefinger die Naht der Tischdecke entlang und sah dann zu Emily auf, als warte er auf eine Reaktion von ihr. Als sie nickte, fuhr er fort: »Normalerweise lebt ein Mensch sein Leben, indem er der Linie folgt, von A nach B nach C nach D.« Wieder nickte Emily, und Matt sprach weiter. »Wir in Hollyhill … wir springen auf dieser Zeitlinie. Von A nach C, von C nach B und vor zu D und so weiter und wieder zurück. Willkürlich. Aber immer versetzt .« Sein Blick durchbohrte sie jetzt, und Emily saß mucksmäuschenstill.
»Weißt du, was ich damit sagen will?«
Emily zögerte. »Ich denke schon, aber …«
»Es ist uns nicht möglich, zweimal in derselben Zeit zu landen«, unterbrach er sie, und seine Hand glitt mit einer fahrigen Bewegung über das Tischtuch. »Irgendwann werden wir womöglich all diese kleinen Striche auf dieser Zeitlinie besucht haben, nur eben nicht in chronologischer Rei henfolge. Und niemals mehr als einmal.«
Es dauerte einige Momente, doch dann verstand Emily. »Das bedeutet«, sagte sie zögernd, »dein Bruder, Silly, Joe, meine Großmutter – sie sind alle schon einmal hier gewesen. Also, hier im Jahr, ähm, 1981?«
Matt nickte.
Emily räusperte sich. Dass sie begriff, was Matt sagte und auch, was er damit meinte, machte es nicht einfacher für sie. Kein bisschen.
»Und weil sie schon einmal hier waren, zur selben Zeit, du und ich aber nicht – deshalb sind wir alleine gesprungen?«
Wieder nickte Matt.
»Aber wo sind sie dann?«, rief Emily verwundert aus. »Hätten wir sie dann nicht gestern antreffen müssen?«
Matt rieb sich mit der Hand über die Stirn. »Das ist es, worüber ich die halbe Nacht gegrübelt habe«, erklärte er. »Kann sein, dass sie ohne mich hier waren in der Zeit, in der ich nicht in Hollyhill gelebt habe. Kann sein, dass sie gestern noch woanders waren, und heute oder morgen oder übermorgen hierher kommen. Falls sie schon einmal hier waren, dann wegen eines speziellen Auftrags – und deshalb ist es jetzt am wichtigsten, herauszufinden, warum wir beide hier sind.«
Er sah sie nachdenklich an.
Emily blinzelte. »Wegen Quayle«, sagte sie langsam.
Matt zögerte kurz, dann fragte er: »Erinnerst du dich daran, wann sich deine Eltern kennengelernt haben?«
Emily hob verblüfft die Augenbrauen. »Meine Eltern?«, gab sie überrascht zurück.
Was hatten ihre Eltern mit der Sache zu tun?
Vor ihrem Gespräch mit Silly hatte Emily kaum etwas darüber gewusst, seit wann oder woher sich ihre Eltern kannten. Dein Vater war auf Geschäftsreise, hatte ihre Großmutter ihr erzählt. Deine Mutter stammte aus England.
Was hatte Silly gesagt? Wo hatten sich die beiden getroffen?
»Exeter«, murmelte sie, und dann, etwas lauter: »Silly sagte, meine Eltern haben sich in Exeter kennengelernt. Meine Mutter sei dort gewesen, wegen eines Jobs.«
»Wegen eines Jobs?«, wiederholte Matt fragend, wartete die Antwort aber nicht ab. »Sie hat nicht gesagt, wann das gewesen ist?«
Emily schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Aber« – sie überflog die Daten in Gedanken – »sie waren schon eine Weile zusammen, bevor ich auf die Welt gekommen bin. Es müsste also schon irgendwann in den 80er-Jahren gewesen sein.«
Matt musterte sie eine Sekunde, dann stand er auf, ging zum Kamin und legte ein Stück Holz nach.
»Du bist noch ziemlich jung«, stellte er fest. »Wie alt bist du?«
Emily spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Die Frage war ihr unangenehm, wenn auch aus den völlig falschen Motiven. Es schwang so viel Sachlichkeit darin, so viel Desinteresse.
»Siebzehn«, antwortete Emily schließlich. »1995 geboren.«
»Und Esther war wie alt, als sie dich bekam?«
Jetzt musste Emily schlucken. Ihre Mutter war tot, und Matt hatte sie gekannt, und trotzdem war sein Tonfall kalt wie ein Stück Marmor.
Automatisch richtete sie sich in ihrem Stuhl auf und antwortete spitz: »Sie war siebenunddreißig. Soweit ich weiß, wollten meine Eltern schon viel früher ein Kind, aber meine Mutter ist … Es war schwierig für sie, schwanger zu werden.« Emily schwieg. Still begann sie noch einmal, die Jahre zu zählen, konnte sich aber nicht wirklich darauf konzentrieren.
Das Feuer knisterte,
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