Zurück nach Hollyhill: Roman (German Edition)
bis sie vor ihren Augen verschwammen, dann schnellte ihr Kopf in die Höhe und ihr Blick suchte das Podium.
Und da stand er. Quayle.
Am Rand der Bühne.
Und unterhielt sich.
Mit ihrem Vater.
Emilys Brustkorb hob und senkte sich viel zu schnell, ansonsten saß sie wie paralysiert. Sie hatte einige Tage Zeit gehabt, sich an den Gedanken zu gewöhnen, ihre Eltern wiederzusehen, doch in diesem Moment kam es ihr so vor, als habe sie sich überhaupt keine Vorstellungen gemacht.
Nicht eine.
Als sei sie blind in diese Veranstaltung gestolpert, ohne sich auch nur eine Sekunde lang bewusst zu machen, was diese Begegnung für sie bedeutete. Was sie in ihr auslösen würde. Wie sie sich fühlen würde, träfe sie auf einmal wirklich und wahrhaftig ihre Eltern wieder, nach der langen Zeit des schmerzlichen Vermissens.
Ihr Vater war tot, seit dreizehn Jahren schon.
Und doch stand er nun dort, keine fünf Meter von Emily entfernt. Und sie fühlte – alles auf einmal.
Sie hatte kaum Erinnerungen an ihren Vater. Sie war zu jung gewesen, als er starb. Und dann der Schock. Ihre Großmutter hatte ihr später über ihn erzählt, und unwillkürlich suchte Emily in dem jungen Mann auf der Bühne den freundlichen Sohn und liebevollen Vater, den sie aus den Geschichten kannte. Im Grunde wusste sie viel mehr über ihn als über ihre rätselhafte, geheimnisvolle, verschlossene Mutter, die Richard aus England mitgebracht hatte, obwohl er sie kaum ein paar Tage kannte, und die er heiraten wollte, nichtsdestotrotz.
Ihre Großmutter hatte nicht eben geschickt verborgen, was sie davon hielt, zumal sich Esther auch nach der Heirat wenig geöffnet hatte. Dieser Umstand sollte später auch zwischen Emily und ihrer Großmutter immer wieder die Angriffsfläche für Streit bieten. »Stur und verschwiegen – wie deine Mutter«, war einer von Omis Lieblingssätzen, wenn sie in einer Diskussion mit Emily nicht weiterkam. Doch sobald sie die Worte ausgesprochen hatte, taten sie ihr wieder leid. Es war schwer, ohne Eltern aufzuwachsen, und es war noch viel schwieriger für ihre Großmutter, die Rolle von Vater und Mutter in einer Person auszufüllen. Hatte sie doch mit der gewonnenen Vormundschaft für die Enkeltochter zugleich ihren Sohn verloren.
Er hatte braune Augen, wie ein Bär, und wenn er lachte, bildeten sich kleine Fältchen um seinen Mund, die ihn wie einen großen Jungen aussehen ließen.
Emilys Herz krampfte sich zusammen, als habe ihr jemand eine Faust darum gelegt und drückte immer fester zu. Sie starrte zu dem Mann, der ihr Vater war, dessen Jugendzimmer sie bewohnte, dessen Andenken sie hütete wie einen Schatz. Noch nie hatte sie sich ihm so nah gefühlt. Und es zerbrach sie fast, ihn dort zu sehen – so jungenhaft und unbedarft und unwissend darüber, was die Zukunft für ihn bereithielt. Wie überschaubar seine Zukunft war. Emily blinzelte. » Twinkle, twinkle, little Star «. Die Erinnerung traf sie mit voller Wucht. Es war das Kinderlied, das ihre Eltern ihr vorgesungen hatten, wenn sie als kleines Mädchen nicht einschlafen konnte.
Mit einem Ruck stand Emily auf und gleichzeitig erloschen die Lampen im Saal und ließen das Pult auf der Bühne als einzige Lichtquelle erstrahlen. Emilys Vater zog sich in die Dunkelheit dahinter zurück. Als ein Mann in einem hellgelben Hemd und mit weinrotem Pullover über den Schultern ans Rednerpult trat, setzte sie sich wieder. Noch hämmerte ihr Herz so laut in ihrer Brust, dass sie meinte, es hören zu können. Doch nach ein paar tiefen Atemzügen war sie in der Lage, die Umgebung um sie herum wieder wahrzunehmen.
Inzwischen hatten sich die Plätze neben ihr und um sie herum mit Menschen gefüllt. Es schien kein einziger Sitz mehr frei zu sein in diesem riesigen Raum.
Wo war Matt?
» Ladies and Gentlemen .« Das Mikrofon knackste, dann schickte es eine Rückkopplung durch den Saal, die den Zuhörern gequälte »Ohs« und »Ahs« entlockte. Der Mann in Gelb lächelte entschuldigend. »Willkommen zum zweiten Vortrag an diesem denkwürdigen Tag«, erklärte er. »Ich hoffe, Sie haben sich in der Pause über den aktuellen Stand in Sachen königlicher Hochzeit informieren können.« Seine Stimme hatte einen süffisanten Tonfall angenommen, und sein Scherz wurde mit leisem Gelächter quittiert. Emily ließ ihren Blick über die Reihen streichen. Das Publikum bestand zu mindestens 95 Prozent aus Männern – kein Wunder, dass sich kaum jemand für die Hochzeit zu interessieren
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