Zurück nach Hollyhill: Roman (German Edition)
schien.
»Bei uns«, ertönte es etwas lauter vom Rednerpult, über das Lachen hinweg, »geht es nun um ein Thema, das vielleicht sogar unsere künftige Königin einmal angehen könnte, allerdings heute noch nicht – natürlich nicht.« Er grinste breit. Blöder Macho, dachte Emily. Sie hatte selten einen so von sich überzeugten, arroganten, unsympathischen Redner gehört. Aber Quayle war ja noch nicht auf der Bühne.
»›Ethik und Moral in der Schönheitschirurgie‹«, fuhr er fort, »das ist das Thema, dem sich James Quayle verschrieben hat. Der Doktorand der Oxford University widmet sich im Rahmen seiner Studien diesem Fachbereich und arbeitet in engem Kontakt mit der altehrwürdigen Harvard-Universität in Boston. Die Amerikaner«, rief Macho mit ausladender Geste, »sind wie üblich einen Schritt voraus, wenn es darum geht, der Natur ein Schnippchen zu schlagen und den Glanz der Jugend zu bewahren. Zahlen belegen, dass die Bereitschaft, sich diesem Wahn zu ergeben und freiwillig das Skalpell walten zu lassen, im Begriff ist, ungeahnte Ausmaße anzunehmen. Ladies and Gentlemen , wer könnte ihnen über die Zukunft der Schönheitschirurgie besser erzählen als ein Mann, der selbst ein Meister am Skalpell zu werden gedenkt? Begrüßen Sie mit mir einen der begabtesten Studenten der Universität in Oxford, den künftigen Doktor der Chirurgie, James Quayle.«
Meister am Skalpell. Emily konnte die Ironie kaum fassen. Geräuschvoll schnappte sie nach Luft, als der zitronenfarbene Unsympath dem Mädchenmörder Quayle die Hand reichte und ihm das Rednerpult überließ. Er trug denselben schwarzen Anzug wie am Vortag, als Matt und sie ihn vom Fenster des Pubs aus beobachtet hatten. Er lächelte ein zurückhaltendes, beinahe schüchternes Lächeln, seine schwarzen Kohleaugen aber glühten. »Danke schön«, hauchte er ins Mikrofon, und Emily bekam eine Gänsehaut. Die Menge verstummte.
»Vielen, herzlichen Dank«, wiederholte Quayle. »Ich muss sagen, es überrascht mich, wie zahlreich die Menschen heute hierhergefunden haben. Eine Konkurrenzveranstaltung dieser Art bietet sich nicht alle Tage.« Er lächelte, und die Männer im Publikum taten es ihm gleich. Emily schüttelte unmerklich den Kopf. Wie konnten sie sich so blenden lassen?
Für sie gab es keinen Zweifel daran, welch Machtmensch Quayle war, auf diese leise und subtile Weise, und wie er es genoss, die Menschen zu dominieren. Jeder Blick, jede Geste, jedes Lächeln und jeder gesäuselte Ton, der seine Lippen verließ, deutete darauf hin, wie wenig Widerspruch dieser Mann duldete, wie wenig Gegenwehr.
Emily lauschte ihm eine ganze Stunde lang. An einer Stelle fragte sie sich, ob sie einen Zwischenruf wagen sollte, ob sie ihn auf diese Weise demaskieren könnte, aber dann – Quayle war zu sehr geübt daran, sich zu tarnen, als dass ihn etwas aus dem Konzept bringen konnte. Er war so abgebrüht. Das Wort »Mörder« schien ihm auf die Stirn geschrieben, und seine sanfte Stimme klirrte vor Kälte, doch niemand schien es zu bemerken.
Niemand außer ihr.
Sie konnte ihm unmöglich weiter zuhören. Emily richtete sich in ihrem Stuhl auf und bemühte sich, Quayle auszublenden. Statt sich auf ihn und seine Worte zu konzentrieren, fixierte sie den hinteren Teil der Bühne mit ihren Augen, aber ihr Vater war nirgendwo zu sehen. Ihr Blick überflog den Rand des Podiums und die Köpfe der Zuhörer dort, doch auch ihre Mutter ließ sich nicht finden. Und wo waren Eve? Und Josh und Matt? War sie die Einzige, die Quayle auf der Spur war, wenn auch nur unfreiwillig, weil sie in seinen Vortrag geraten war?
Sie musste mit Matt sprechen. Ihm erzählen, dass ihr Vater und Quayle sich kannten. Vielleicht war dies die Verbindung zu ihrer Mutter? Womöglich ließ sich darin eine Erklärung finden, dass die Frau, die ihr Leben lang in einem Dorf zugebracht hatte, das durch die Zeit reiste, mit Menschen, die ihre Familie waren, plötzlich allen den Rücken kehrte für einen Mann, den sie erst ein paar Stunden kannte? Wenn überhaupt? Emily wusste nicht einmal, wie lange dieses Leben gewesen war. Matt hatte gesagt, sie alterten nicht. All die Jahre waren spurlos an ihrer Mutter vorübergezogen. Und nun setzte sie sich dem normalen Leben aus, nur um … Ja, warum? Emily hatte schon so oft über diese Frage nachgedacht, dass ihr Kopf zu schmerzen begann. Sie schob den Gedanken beiseite. Matt. Ihn zu finden, war das Einzige, um das sie sich im Moment kümmern musste.
Applaus
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