Zurückgeküsst (German Edition)
warum sie weggegangen ist und nie … du weißt schon. Nie wieder zurückkam. Oder warum sie nie geschrieben hat. Na gut, sie hat geschrieben. Vier Postkarten.“
Er nickte. „Weißt du schon, was du ihr sagen willst?“
„Ach, wahrscheinlich einfach … ‚Hallo, Mom‘. Meinst du, das sollte ich sagen? Oder lieber ‚Hallo, Linda‘? Oder irgendetwas anderes?“
Er schüttelte den Kopf. „Du sagst, was immer du willst, Liebes. Oder spuck ihr ins Gesicht. Tritt ihr gegen das Schienbein.“ Er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht ganz.
Ich nickte, verstand, was er mir damit klarmachen wollte. Als sie mich damals verlassen hatte, hatte ich mich viele schlaflose Nächte mit der Frage gequält, was ich getan hatte, dass sie gegangen war. Warum war ich nicht anders gewesen? Oder besser? Oder lieber? Warum hatte ich nicht gemerkt, dass sie unglücklich war, und etwas dagegen unternommen? Warum war ich nur so dumm gewesen? Später sah ich natürlich ein – zumindest theoretisch –, dass es nicht mein Fehler gewesen war. Ich war nur ein Kind gewesen, dreizehn Jahre alt, und hatte nichts falsch gemacht. Mein Verstand sagte mir, dass ich nichts dafür konnte, dass meine Mom einfach abgehauen war, doch tief im Innern fühlte ich mich trotzdem schuldig.
Ich hatte mir unser Wiedersehen schon Tausende Male vorgestellt. Als Teenager hatte ich mir die Freude in ihrem Gesicht vorgestellt, einen wahren Taumel der Glückseligkeit, wenn sie mich sähe, woraufhin sie alles erklärt hätte – sie stamme aus einer Mafiafamilie und habe als Zeugin gegen sie aussagen müssen. Oder sie sei eine Agentin des CIA und hätte, wäre sie bei uns geblieben, unser aller Leben riskiert – aber nun sei es sicher und sie könne wieder bei uns leben. Als die Jahre vergingen, änderten sich die Fantasien – später war sie diejenige, die mich aufsuchte (vermutlich war es kein Zufall, dass ich auf Martha’s Vineyard geblieben war), aus tiefstem Herzen bereute, dass sie so viele Jahre ohne mich verbracht hatte, ihren großen Fehler eingestand und schwor, an jedem einzelnen Tag an mich gedacht und nie aufgehört zu haben, mich zu lieben, da ich das Einzige auf der Welt sei, das wirklich zählte.
Zuletzt hatte ich mir häufig vorgestellt, dass sie tot wäre und wie ich auf den Anruf mit dieser Nachricht reagieren würde. Wie elend es mir gehen würde, wenn ich es jetzt erführe. Ich denke,das war letztlich der Auslöser, den Privatdetektiv anzuheuern und sie ausfindig zu machen.
Nun, da der große Moment endlich bevorstand, wusste ich nicht genau, was ich tun sollte.
Nick drückte mir die Hand. „Ich komme mit dir“, sagte er.
„Das wäre toll“, flüsterte ich. „Aber was ist mit Coco? Was, wenn Hunde dort nicht erlaubt sind?“
„Warum lassen wir sie nicht einfach im Wagen?“, schlug er vor. „Das wird schon gehen. Wir lassen die Fenster einen Spalt breit offen, dann wird es nicht zu heiß.“
„Wirklich? Bist du sicher?“
Er nickte. „Ich kann ja zwischendurch auch zurückgehen und gucken, wenn du willst.“
„Okay. Danke, Nick.“
Er lächelte verhalten. „Bist du bereit?“
„Nicht wirklich“, sagte ich, machte aber trotzdem die Tür auf. Meine Beine fühlten sich an, als wären sie aus Watte, und Nick nahm meine Hand, als wir die Straße hinuntergingen – meiner Vergangenheit entgegen, ersehnten Antworten entgegen, ihr entgegen …
Wir kamen an den Zebrastreifen. Da drüben, auf der anderen Straßenseite, könnte meine Mutter sein. Würde sie anders aussehen? Was, wenn sie heute keinen Dienst hatte? Was, wenn sie gekündigt hatte? Ich schluckte.
„Bist du sicher, dass du das willst?“, erkundigte sich Nick.
Offen sah ich ihn an. „Ja. Ja, ich bin sicher.“
Wir überquerten die Straße, und Nick öffnete die Türen zum Restaurant. Ich erstarrte. „Ich sehe sie nicht“, sagte ich.
„Willst du trotzdem reingehen?“ Ich nickte, und gemeinsam betraten wir das Lokal. Eine Kasse. Grün-weiße Einrichtung. Eine Theke mir Barhockern. Tischnischen.
Und da war sie.
Meine Mutter.
Nick musste die verblüffende Ähnlichkeit ebenfalls bemerkt haben, denn ich hörte, wie er tief und scharf die Luft einzog. Wieder nahm er meine Hand.
Sie trug eine schwarze Hose und eine limettengrüne Bluse. Ihr Haar, das früher die gleiche Farbe wie meines gehabt hatte, war jetzt roter und zu einem Bob geschnitten, der hinten kürzer war als vorn. Sie trug pfirsichfarbenen Lippenstift. Weiße Keds. Sie war
Weitere Kostenlose Bücher