Zusammen Allein
in der Liebe zu meinem Heimatland, und auf die Schulstunden zu verzichten, machte mir nun wirklich nichts aus. Gegen Mittag allerdings konnte ich einer Birne mit zartroten Bäckchen nicht widerstehen und biss hinein. Daswar ein Fehler, vielleicht aber auch mein Glück, denn diese Birne, innen hart und saftig, außen weich, heilte mich vom Sozialismus. Unsere Vereinigung, ich rede immer noch von der Birne, wurde beobachtet, später sogar protokolliert. Mit zwei weiteren Übeltätern, die ebenfalls Staatseigentum aufgegessen hatten, wurde ich auf den Kartoffelacker verbannt. Soldaten hatten das Feld abgeerntet, wir sollten nun die Nachlese erledigen. Mürrisch machten wir uns an die Arbeit. Ich arbeitete flink und lieferte meine Beute beim Genossen Kooperativenleiter ab.
»Noch einmal, dieselbe Reihe!«, befahl er. Verdutzt suchte ich in den Furchen nach gelbbraunen Punkten.
»Auch die Mickrigen?«
Dem Nicken nachgebend wandte ich mich wieder dem Feld zu, kam nach einer weiteren Stunde mit meiner armseligen Beute zurück. Er, der Genosse Kooperativenleiter, war immer noch nicht zufrieden. Hilfe suchend wandte ich mich an meine Lehrerin, doch die wagte nicht zu protestieren. Selbst eine Pause wurde mir verweigert. Die beiden anderen Übeltäter aber hatten ihre Namen genannt und waren gnädig entlassen worden.
»Warum soll ich als Einzige weiterarbeiten?« Erschöpft hielt ich eine erbsengroße Kartoffel hoch. Nur mit Mühe konnte ich mich aufrichten. Mein Kreuz glühte, fühlte sich wie ein Stock an, der in der Mitte sauber durchbrochen worden war.
»Weil dein Name mir nicht gefällt!«, erwiderte der Genosse und rotzte mit viel Trara in ein tischtuchgroßes Taschentuch.
Am Abend konnte ich die Suppe nicht auslöffeln. Der Suppenlöffel entglitt immer wieder meiner zitternden Hand, fiel klirrend zu Boden. Puscha musste mich füttern.
Die sozialistischen Lieder sang ich am nächsten Tag nicht mehr mit, am übernächsten auch nicht. Und noch ein paar Tage später trat ich aus dem Verband der Werktätigen Jugend aus. Karin folgte mir, aus Solidarität, wie sie mir schrieb. Der dreiseitige Brief kam mit der Post. Darin teilte sie mir mit, wie wichtig ich für sie sei und dass ich sie bitte, bitte wieder als Freundin akzeptieren solle. Es klang wie ein Bewerbungsschreiben. Ich gab nach, und gemeinsam fluchten wir auf das System, das wir bis dahin für unantastbar und heldenhaft gehalten hatten.
Während den folgenden drei Erntewochen aber gab es kein Entrinnen. Jeden Morgen wurden wir mit den Worten:
Ihr seid tapfere Patrioten des Volkes
begrüßt und mit den Worten:
Auf euch kann man sich verlassen
verabschiedet. Wir trugen abwechselnd Zeitungshüte gegen die Hitze und warme Mützen gegen die kalten Herbstwinde. Der Wetterbericht im Fernsehen war gefälscht worden, von konstanten Temperaturen konnte keine Rede sein.
Niemand wurde krank, doch als die Schule wieder ihren Unterricht aufnahm, fehlte die halbe Klasse. Etliche waren am letzten Tag mit Angina oder Schnupfen heimgekommen und hatten sich ins Bett gelegt. Andere fehlten, weil ihre Schuhe während des Ernteeinsatzes ruiniert worden waren.
Auch ich musste mir Schuhe von Puscha leihen. Sie besaß zahlreiche Paare, in allen möglichen Größen,doch an die Absätze konnte ich mich nicht gewöhnen. Wie ein verletzter Storch knickte ich immer wieder um. Am Nachmittag fasste ich den Entschluss, das Modarom, Kronstadts größtes Kaufhaus, aufzusuchen.
Chinesische Turnschuhe waren geliefert worden. Schwarze für die Frauen, blaue für die Männer. Bereits auf der Straße hatte ich einen beißenden Geruch wahrgenommen. Oft blies der Wind aus östlicher Richtung, wehte die Verbrennungsrückstände des Müllbergs durch die Stadt, doch in der Abteilung mit den Schuhen roch es noch viel schlimmer. Es wunderte mich jetzt nicht mehr, dass sich an der Kasse keine Menschenschlange gebildet hatte.
»Haben Sie auch Lederschuhe?«, fragte ich eine der zahllosen Verkäuferinnen und hielt mir die Nase zu.
»Ja, allerdings von der Sonne verblichene und auch nur für Herren und auch nur in den Größen 40 und 42.«
»Und was tragen Frauen?«
»Turnschuhe oder Herrenschuhe«, antwortete sie, ohne zu zögern. »Bei Schnee merkt das kein Mensch.«
»Wofür gibt es Geld, wenn es nichts zu kaufen gibt?«, ließ ich Dampf ab.
»Keine Sorge, auch Geld wird knapp, ich habe mein Gehalt für den September immer noch nicht erhalten.«
Ich schwieg und stolperte enttäuscht
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