Zusammen Allein
Schwesterngesicht. Dieser Mann, das war mir bereits beim ersten Durchblättern aufgefallen, war bis über beide Ohren in Puscha verliebt.
»Ist das mein Otata? Warum sagst du nichts?«
Misch kam herein, begriff die Situation im Nu und versuchte, mich zu beschwichtigen.
»Lass sie, sie schämt sich.« Doch Ruhe war das Letzte, was ich jetzt brauchte.
»Warum? Ich will es wissen.«
Puscha fuhr sich über die Augen. Doch da war nichts. Keine Träne. Ihr Gesicht wie versteinert.
Kinder kommen als Kinder auf die Welt, hatte Herr Honigberger behauptet, damit sie alles und jeden hinterfragen. Ich war kein Kind mehr, doch ich hatte viele Fragen.
»Hast du ihn umgebracht? Hast du ihn mit deinem zweiten Mann betrogen, ist er deshalb auf und davon?«
»Komm, setzt dich«, forderte Misch mich auf. Seine Stimme klang merkwürdig gedämpft, als würde sich ein Kranker im Raum befinden. »Es ist nicht so schrecklich dramatisch, wie du dir das ausmalst. Die Sache ist eher banal. Aber wer redet schon gerne über Fehler, ich meine über die eigenen …« Er sah Puscha an, suchte nach der Erlaubnis weiterzusprechen, »deshalb übertreibt sie es mit der Geheimniskrämerei«.
»Du weißt Bescheid?«
»Ich war Zeuge. Deine Omama und ich kennen uns seit der Schulzeit. Allerdings hat sie mich immer links liegen gelassen.« Erheitert schnippte er mit den Fingern. Es war eine zärtliche Geste, ein Zeichen seiner Liebe. Tief beugte er sich herunter, suchte Puschas Wange, doch die drehte sich zur Seite. Er traf ihre Nase und hauchte einen Kuss darauf.
»Komm«, murmelte er ihr ins Ohr. Dann setzte er sich erwartungsvoll neben mich.
Dieses Gefühl, an einem anderen Ort zu sein, in einer anderen Zeit, dieses Gefühl hielt lange an. Puscha war aufgestanden, hatte aus ihrem Schlafzimmer ein paar Hefte geholt und den Stapel vor mich auf den Tisch gelegt. Wie sie meinem Spürsinn entgehen konnten, war mir schleierhaft, ich hatte jeden Winkel von Puschas Zimmer durchsucht.
»No, schau, hier steht alles drin.« Meine Großmutter zog die Augenbrauen steil in die Höhe. »Das habe ich für deine Mutter aufgeschrieben, aber sie will es nicht lesen.« Die Lippen öffneten sich, klappten wieder zu. »Nicht aus Scham habe ich geschwiegen, sondern weil deine Mutter das Recht gehabt hätte, dir ihre Version zu erzählen. Frag mich nicht, warum sie es nicht getan hat.«
Puscha stand wie eine gelangweilte Schauspielerin vor mir. Die Rolle ist eine von vielen, bedeutete ihr Blick. Bild dir nichts darauf ein, dass ich dir etwas von mir preisgebe.
Die Hefte, makellos sauber, waren geschützt worden durch Leintücher oder Handtücher, in einem lichtlosen Schrank. Nahezu gewichtslos lag das erste in meiner Hand, ein liniertes Schulheft, bis zur letzten Seite mit eng aneinandergesetzten Zeichen gefüllt. Jeder einzelne Buchstabe gleichmäßig nach rechts gestellt, die Schrift einer braven Schülerin. Passt nicht zu meiner Großmutter, das war mein erster Gedanke. Mein zweiter: Einen Menschen, selbst wenn man mit ihm unter einem Dach zusammenlebt, kennt man nie ganz, auch nicht halb, höchstens etwas besser als seinen Nachbarn. Umsonst hatte Misch darauf gewartet, dass eine Diskussion oder Aufarbeitung in Gang kam, ich stand auf, bedanktemich bei den beiden mit einem Kopfnicken und zog mich in mein Zimmer zurück. Als Erstes suchte ich nach Jahreszahlen, fand aber keine. Die altmodisch wirkenden Umschläge, alle von gleicher Machart, deuteten darauf hin, dass Puscha die Hefte vor vielen Jahren gekauft haben musste. Sie waren mit römischen Zahlen gekennzeichnet. I–VI.
Eintauchen in ein fremdes Leben. Ich schlug das oberste Heft wie ein Buch auf und sprang mit einem Kopfsprung mitten hinein in das unbekannte Gewässer, ließ mich mitreißen und wurde Teil des Geschehens. Draußen lockten Amseleltern die Nachbarskatze mit wildem Geschrei vom Nest weg, doch davon bekam nur mein Unterbewusstsein etwas mit.
Puscha, einzige Tochter eines Gasthausbesitzers, war siebzehn, als sie alleine nach Wien fuhr. Sie hatte sich gegen den Willen ihres Vaters gestellt, sich durchgesetzt. Nicht Kindergärtnerin wollte sie werden, nicht Schneiderin, schon gar nicht Wirtin, sondern Zahntechnikerin. Bereits am ersten Tag, noch im Reisekleid, noch mit zwei Koffern beladen, noch weltfremd und schüchtern, trat sie einem Mann auf den Fuß. Sein Äußeres war sorgsam gepflegt, aber die blank geputzten Schuhe schienen das Wertvollste zu sein, was er besaß. Herrje,
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