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Zusammen Allein

Titel: Zusammen Allein Kostenlos Bücher Online Lesen
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war eine Waise geworden, wusste nicht ein noch aus.
    Briefe nach Amerika durchquerten den halben Kontinent, bevor sie per Schiff weitertransportiert wurden. Sechs Wochen dauerte das Zustellen. Bis Antwort kam, noch einmal so lange. Also schickte man Telegramme.
     
    Meine Eltern tot. Puscha.
     
    oder:
     
    Doris geboren, gesund. Kein Geld mehr. Deine Mutter will mich nicht empfangen. Puscha.
     
    Die Antwort kam:
     
    Komme selbst nach Kronstadt. Hole Euch. Erwin.
     
     
    Das letzte Telegramm war auf ein kleines Format zusammengeschnitten und in das Heftchen mit der Nummer III geklebt worden. Die Schrift verschmiert, kaum lesbar. Wie eine erhobene Faust mahnte es: Das alles ist passiert, keine Geschichte, keine Erfindung.
    Bange Monate vergingen, in denen meine Großmutter nicht viel mehr tat, als zu warten. Irgendwann aber stellte sie ein Kindermädchen ein, sie musste Geld verdienen. Ihre erste Anstellung fand sie bei Dr.   Jakobi, Zahnarzt in der Angergasse. Die Hälfte des Verdienstes ging an das Kindermädchen, der Rest reichte gerade zum Überleben. Endlich das ersehnte Telegramm:
     
    Bin in Hamburg. Ankomme in vier Tagen. Erwin.
     
    Es war Winter, die Reise beschwerlich. In Europa herrschte Krieg. Alles war ungewiss. An der Grenze zu Ungarn stand ein junger Zöllner. Ihm fehlte ein Auge, für den Wehrdienst war er untauglich. Erwin Schuller, las er, geboren in Kronstadt, österreichischer Staatsbürger. Warum nicht beim Dienst?, wollte er wissen. Er hörte sich die Geschichte an, hörte Amerika, hörte das Wort Freundin und Kind und konnte nicht glauben, dass jemand nur an sich und seine Familie dachte. Es ging schließlich ums Ganze, um die Verteidigung des Vaterlandes. Der Zöllner rief seinen Vorgesetzten, der Vorgesetzte telefonierte wiederum mit seinem Vorgesetzten,und Erwin Schuller wurde festgenommen und wenig später in eine Uniform gesteckt. Sie war nur notdürftig gereinigt worden, zeigte am Rücken Blutflecken. In Kampfstiefeln durfte er den Hexentanz um Leben oder Tod tanzen, im Osten, in Russland. Rumänien durchquerte er in einem geschlossenen Eisenbahnabteil.
     
    1942.   Ich war zwanzig,
hatte meine Großmutter unter das Telegramm geschrieben, in dem Erwin ihr von der Zwangsrekrutierung berichtete,
und ich war allein auf der Welt. Doris , ein Winterkätzchen, blieb winzig, wollte nicht wachsen. Der einzige Plan, den ich hatte, war , durchzuhalten, bis Erwin aus dem Krieg zurückkam. Bis dahin musste ich überleben. Ich gab das Kind weg, weil ich beim Jakobi nicht genug verdienen konnte, um eine Wohnung, das Kindermädchen und die steigenden Lebenshaltungskosten zu bezahlen. Ich richtete mir ein Dentallabor ein, machte mich selbstständig. Die Zeiten waren hart, aber es gab eine gewisse Freiheit für Frauen, die neu war. Viele Männer waren jetzt im Krieg.
    In Reps lebte eine Cousine meines Vaters. Sie war nur neun Jahre älter als ich. Ihrem Mann gehörte die Apotheke, und die beiden hatten vier Buben. Sie wünschten sich ein Mädchen. Doris war ein knappes Jahr, als sie sie bei mir abholten. Eine Zeit lang dachte ich daran, mich in Reps niederzulassen, um in ihrer Nähe zu sein, doch Kronstadt bot die besseren Möglichkeiten. Bereits nach wenigen Wochen wollten sie Doris adoptieren. Wir vereinbarten, dass Doris Bescheid wissen sollte. Sie sollte wissen, dass sie ein Ziehkind war und ich ihre Mutter. Nur unter dieser Bedingung willigte ich ein. Sooft ich wollte, durfte ich sie besuchen. Es war schön, sie aufwachsen zu sehen. Ich war die Mama Hertha,
Tatas Cousine war die Mutti. Das Geschäft in Kronstadt lief gut, Zahngold überschwemmte den Markt, ich konnte etwas zur Seite legen.
     
    Auf der ersten Seite des letzten Heftes ein Brief. Am oberen Rand gefaltet und eingeklebt. Eine andere Handschrift, krakelig, als wären Amseln zuerst durch Tinte, dann über ein weißes Blatt gehüpft. Ich sah die Schrift meines Großvaters zum ersten Mal.
    Datiert war der Brief am 16.   Dezember 1947, abgeschickt worden war er allerdings erst im Januar des Folgejahres, in Nürnberg. Der Zweite Weltkrieg war überstanden. Opfer überall!
    Aus einem trotzigen Gefühl heraus ließ ich den Brief unbeachtet und suchte nach der Handschrift meiner Großmutter.
     
    1943 geriet Erwin in Kriegsgefangenschaft. Beim Rücktransport muss er durch Kronstadt gekommen sein, doch er ist nicht ausgestiegen. Vom Osten wolle er nichts mehr wissen, schrieb er mir nach seiner Ankunft im Westen, ich solle nachkommen.

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