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Zusammen Allein

Titel: Zusammen Allein Kostenlos Bücher Online Lesen
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Nachkommen , ohne das Kind, wie stellte er sich das vor? Und die Grenzen waren dicht. Eine Handvoll Kommunisten hatte das Ruder übernommen. Fast wäre ich auch nach Russland deportiert worden, zum Wiederaufbau, doch ich konnte mich verstecken und entkam dem Transport. Mein Geschäft aber musste ich aufgeben. Die Verstaatlichung trieb mich auch aus meiner Wohnung, ich wanderte mit Sack und Pack nach Reps.
    Ein Jahr verging, und nichts passierte, außer dass meine Liebe sich in Hass verwandelte. Man sagt das so leicht
dahin, aber so eine Verwandlung ist wie eine Häutung, schmerzhaft, und man kommt sich vollkommen schutzlos vor.
    Doris wurde drei Jahre alt, ein stilles, zurückhaltendes Kind. Statt Freude ins Haus zu bringen, versteckte sie sich vor den vier Brüdern, machte sich unsichtbar, so gut es ging. Die Cousine meines Vaters hatte vor Kurzem ein Mädchen geboren, ein Nesthäkchen, sie wollte, dass ich Doris wieder zu mir nahm. Aber wo sollte ich mit dem Kind hin, ich besaß weniger als nichts. Außerdem hatte ich gerade George kennengelernt. Er war meine Fahrkarte in dem kleinen Boot, das sich nach und nach in einen Ozeandampfer verwandelte. Wenn schon im Unrat schwimmen, dachte ich mir, dann wenigstens obenauf. Oberstes Deck, wo die Luft besser ist. George war drei Jahre jünger, er war einfacher Arbeiter gewesen, bevor er der Kommunistischen Partei beitrat. Seinem Aufstieg schien nichts im Wege zu stehen. George wollte Kinder, aber Doris konnte er nicht akzeptieren. Ich musste wählen.
     
     
    An dieser Stelle war die Tinte verwischt; das Papier wellte sich wie die Meeresoberfläche während eines Sturms.
    »Doris oder George?«, wiederholte ich laut. Meine Großmutter, die Hure. Der Ausdruck war starker Tobak, aber eins schien festzustehen, sie hatte sich für ein angenehmes Leben und gegen ihre Mutterpflichten entschieden.
    Obwohl die Aufzeichnungen nicht zu Ende waren, klappte ich das Heft zu. Ich mochte nicht mehr weiterlesen.Gespannt wartete ich auf die Empörung. Sie musste kommen. Ich wusste, dass sie da war, tief in mir drin, aber eine ganze Reihe neuer Gefühle ließ nicht zu, dass sie an die Oberfläche aufstieg. Männer gehen, und man schüttelt den Kopf. Aber wenn Frauen aufhören, sich wie Mütter zu verhalten, dann kann mit einem Entrüstungsbeben gerechnet werden. Aus weiblicher Sicht erschien mir das ungerecht. Bei meiner Mutter war das natürlich etwas anderes. Sie hatte
mich
verlassen, war in ein fremdes Land geflohen. Es stimmte, ich hasste sie mehr als meinen Vater. Aber ich konnte mich nicht dazu überwinden, auch meine Großmutter zu hassen.
    Als ginge es darum, das Für und Wider einer Berufsausbildung abzuwägen, suchte ich Argumente für und gegen den Hass. Meine Großmutter war alles, was ich hatte. Sie liebte mich nicht, davon ging ich aus, aber sie war für mich da. Immerhin. Enttäuscht warf ich das letzte Heft zu den anderen auf den Tisch. Der Stapel wurde erschüttert, stieß gegen eine Karaffe mit Wasser. Neben der Karaffe ein Stirnband, rot, von meiner Mutter. Die Gegenstände bildeten auf der Pepitatischdecke einen optischen Dreiklang. Ich suchte nach meiner Kamera und holte die Gegenstände dicht vor die Linse. Alles gehört zusammen, irgendwie. Puschas Vergangenheit, Mamuschs Verletzungen, mein Alltag.
    Leise, als wolle ich die Geister, die sich in meinem Zimmer versammelt hatten, nicht stören, legte ich mich aufs Bett. Ich weinte. Ich weinte um mich. Alle anderen hatten Schuld auf sich geladen. Da sollte es mir möglich sein, mich erhaben zu fühlen, doch ich fühlte mich miserabel. Als Kind, das wurde mir erst zu dem Zeitpunktbewusst, hatten Bilderbücher, Filme, der Pfarrer, die Erzieherinnen und meine Eltern mir etwas versprochen. Sie hatten mir von einem allumfassenden Glück gesungen und erzählt. Wenn man nur tüchtig und mutig genug war, blieb die Belohnung nicht aus. Doch wo war mein Glück?
    Ein heftiger Windstoß stieß das Fenster auf, ich schreckte hoch. Draußen fegten Wolkenhexen in rasendem Galopp vorbei. Es war so dunkel, dass ich das Licht einschalten musste.
    Da stand Puscha in meinem Zimmer, als hätte sie auf ein Zeichen gewartet. Ihr Blick fiel auf den Heftturm, dann auf mich. Sie kam mir kleiner vor als sonst, älter, als wäre die Vergangenheit ein Zementsack, der sie zu Boden drückte. Doch ihre Stimme war ganz die alte, schneidend, Respekt fordernd.
    »Und, was sagst du?«, wollte sie wissen. Mit der rechten Hand strich sie sich eine Strähne

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