Zusammen Allein
Hörer.
»Für mich war sie nie da.« Alter Groll rieselte durch den Telefonhörer. Sie redete von ihrem neuen Leben und dass alles gut wäre, wenn ich doch endlich nachkommen könnte. Dass ich nicht zu ihnen wollte, brachte sie zur Weißglut.
»Spatzerl, das kannst du uns nicht antun.«
»Aber ihr, ihr konntet mir das antun.«
»Das war etwas ganz anderes. Das mussten wir tun. Für dich.«
Sie weinte, und das fand ich tröstend.
»Vielleicht komme ich ja, wenn du herausfindest, wo der Otata lebt.«
»Na, das wäre ja noch schöner …«
Mitten im Satz entstand eine lange Pause. Die Vermutung lag nahe, dass die Leitung unterbrochen worden war, doch das war nicht der Fall. Mamusch rang um Fassung.
Von wem ich redete?, fragte sie. Ihre Stimme klang neu oder neu gestimmt. Mit wenigen Worten erklärte ich ihr, was ich wusste, und mit etwas mehr Worten, was ich herauszufinden gedachte. Wieder entstand eine Pause, dann endlich bezog sie Stellung. Nein, definitiv, sie hätte sich nie um ihren Erzeuger gekümmert, sie hätte keine Ahnung, ob er noch lebte und wenn ja, wo. Sowieso sei ihr das vollkommen wurscht. Wie sie dieses »wurscht« zischte, es war eine Freude, das mit anzuhören. Sie schien tatsächlich erst durch mich wieder an die Existenz ihres Vaters erinnert worden zu sein.
»Warum kümmerst du dich um alte Geschichten?«,seufzte sie schließlich, »was hast du mit ihm zu schaffen? Was willst du bei einem alten Mann, der …?«
Ich unterbrach sie. Puscha sei an allem schuld, in diesem Punkt gäbe ich ihr recht. Sie hatte verhindert, dass wir Erwin Schuller kennenlernten. »Aber wenn du das in Ordnung bringst, vielleicht komme ich dann.«
Als sie auflegte, klickte es in der Leitung, kurz danach ein zweites Mal. Spätestens jetzt wussten die Geheimdienstleute, dass ihr Land ein begeistertes Mitglied der sozialistischen Jugendbewegung verloren hatte. Vielleicht auch bald eine Bürgerin. Dabei war ich mir ganz und gar nicht sicher, ob ich Rumänien wirklich verlassen wollte. Und selbst wenn ich mich dazu entschloss, der Staat konnte mir die Ausreise ohne Angabe von Gründen jahrelang, jahrzehntelang verweigern.
Der Teufel scheißt gern auf die gleiche Stelle. Aus irgendeinem Grund hatte er sich meine neue Familie dafür ausgesucht.
Es war Abend, ein Wochentag Anfang November. Im Schlafzimmer lief der Fernseher. Misch und Puscha, dicht nebeneinander auf dem Sofa sitzend, waren in einem tiefen Fernsehschweigen gefangen. Die Videokassette mit vier Folgen der amerikanischen Serie
Dallas
hatte der Kollege eines Freundes ins Land geschmuggelt. Wir kannten sie auswendig, und mir ging es inzwischen auf die Nerven, wie Pamela dastand, in einem bieder zugeknöpften Nachthemd, die Augen tränennass, die Schminke verwischt. Im Hintergrund sah man J. R., der durch die Badezimmertür schielte. Seufzend erhob ich mich, trat ans Fenster. Auch im Nachbarhaus liefder Fernseher. Selbst auf die Entfernung erkannte ich, dass eine Ansprache des Conductors übertragen wurde. Er saß, nein, er stand hinter einem Schreibtisch mit der immer gleichen Bücherwand im Rücken. Der gebildete Schuster. Er war dafür verantwortlich, dass das Fernsehen nur noch ein Zweistundenprogramm übertrug. Das war selbst für sozialistische Verhältnisse lächerlich wenig. Statt der ersehnten Spielfilme aus dem Westen zeigte man Propagandareden und Serien aus den Bruderländern. Letztere auch selten, meistens am Wochenende. Und warum kein Sport mehr übertragen wurde, wusste er allein. Er, der durch vielfältige Methoden in unsere Gedanken und Träume zu schlüpfen versuchte und nun durch die Antenne ins Nachbarhaus rieselte.
Als es am Tor klingelte, dreimal kurz hintereinander, war ich ungehalten über die späte Störung. Leo begann zu bellen, und ich fluchte, weil ich meine Stiefel nicht finden konnte. In der vergangenen Nacht hatte es zum ersten Mal geschneit. Ohne Eile ging ich zum Tor und begrüßte den späten Gast. Die blinde Popescu wollte zunächst nicht hereinkommen, dann kam sie doch. In der Rechten schwenkte sie eine Tasche, sie bot Honig zum Kauf an. Ich rief nach Großmutter, rief extra laut, damit sie das Video ausstellen und Ceauşescus Rede einblenden konnte. Alle strömten in die Küche. Frau Popescu fragte, was so traurig gewesen wäre, woraufhin Puscha sich hastig ein paar Tränen von der Wange wischte und eine Erklärung stotterte. Wir brauchten eine Weile, um uns von dem Schock zu erholen. Eine Blinde, die
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