Zusammen Allein
davon auch nur einen Teil.
Die blinde Popescu. Als sie heimging, noch ein bisschen gekrümmter als sonst, noch ein bisschen langsamer als sonst, gab sie uns den Ratschlag, das Dielenbrett in der Kammer, unter dem die Westware lag, mit einem Nagel zu fixieren. Wir dankten ihr für den Tipp, bezahlten den zu Bruch gegangenen Honig und gabenihr ein Päckchen Kent-Zigaretten. Schmerzensgeld und Schweigegeld in einem.
Ungläubig stand ich vorne am Pult, starrte auf die Vier. Mit einem roten Stift war sie unter den Test gekritzelt worden. Ich hatte sonst immer eine Zehn, mindestens eine Neun. Seit ich bei Puscha lebte, war ich nicht fleißiger geworden, dennoch hatten sich meine Zensuren erheblich verbessert. Als die Tränen kamen, trat Karin neben mich. Das hatte noch niemand gewagt. Besitzergreifend legte sie ihren Arm um mich und sah Herrn Honigberger streng an. Der starrte an uns vorbei, rief den nächsten Schüler auf. Als ich immer noch nicht gehen wollte, sagte er:
»Agnes, da war nichts zu machen, wirklich.«
»Aber sie hat gelernt«, mischte sich Karin ein.
»Hier wird nicht geprüft, ob man gelernt hat, sondern ob man etwas weiß. Das ist nicht dasselbe. Ich verstehe allerdings, dass es nicht immer leicht ist.«
Gar nichts verstand er.
Um halb sechs war ich aufgestanden und hatte mich auf den Weg gemacht. Der Vorteil schlecht geheizter Wohnungen: Man schlief in voller Montur, Unterwäsche, Hose, Jacke, Mantel. Die Straßen so leer. Leer von Lärm und von Menschen, die welchen hätten verursachen können. Keine Gerüche. Die Kälte hatte sie zu Boden gedrückt oder neutralisiert. Gott war mir in solchen Stunden sehr nah. An jenem Tag aber, zwei Tage nach Petres Verhaftung, kam Gott mir wie ein unerreichbarer Stern vor, irgendwo weit draußen im All.Vielleicht war er bereits erloschen. Ab und zu drang das gleichmäßige Atmen von Erschöpften durch schlecht isolierende Fenster. Sehnlichst wünschte ich mir Unterstützung herbei. Wie war es möglich, dass Petre verhaftet worden war und niemand, niemand außer der nächsten Verwandtschaft davon wusste.
Das Gebäude der Staatssicherheit in der Angergasse, die Villa Popovici. Enteignet, umgebaut, verschmutzt. Jetzt ein Verwaltungsgebäude mit vergitterten Fenstern. Die ehemals helle Fassade blätterte ab, zeigte dunkle Wunden, unter denen das Mauerwerk sichtbar wurde. Das Gegenteil von Verkrustungen. Nicht weniger schäbig die Schwesternvillen rechts und links. Langsam, gleichmäßig wie eine Wanduhr pendelte ein Wachposten vor der Villa auf und ab. Unter der dicken Fellmütze suchte ich nach menschlichen Zügen, doch es war zu dunkel, ich konnte mein Gegenüber nicht erkennen. Dabei zauberte die Glut seiner Zigarette kleine Lichtsterne in die weiß gefrorene Nachtluft. Der Mann war ein Soldat, war nicht mehr, war nicht weniger.
Gestern hatten wir vergeblich versucht, von ihm oder seinem Kollegen vorgelassen zu werden. Selbst die Auskunft, ob Petre sich hier oder an einem ganz anderen Ort aufhielt, hatte man uns verwehrt. Die Mauer der Angst kann um eine Mauer des Schweigens erhöht werden.
Erschöpft und doch hellwach lehnte ich mich schräg gegenüber an eine Häuserwand und wartete. Um sechs Uhr sollte der Schichtwechsel stattfinden. Ein Kollege von Misch hatte uns geraten wiederzukommen, wenn Ion Tanase, ein Vetter von ihm, Dienst tat. Doch niemand kam. Der Schichtwechsel fiel aus irgendeinemGrund aus. Ich pendelte nun ebenfalls, pendelte von rechts nach links, kämpfte dagegen an einzuschlafen und festzufrieren. Kurz vor acht Uhr löste Puscha mich ab, wir küssten uns kurz. So gerne, wenigstens jetzt, wenigstens in dieser schwierigen Situation, wollte ich mich einem Menschen ganz öffnen, doch ich war nicht offener, eher vorsichtiger geworden. Mit einem traurigen Lächeln nickte sie mir zu, dann ging ich in die Schule, erst langsam, als suche ich den Weg, schließlich eiligen Schrittes. Zitternd vor Kälte und Erschöpfung betrat ich das Schulhaus. Im Klassenzimmer angekommen, bekam mich eine Stunde lang niemand vom Kohleofen weg. Später erzählten sie mir, ich hätte einen verwirrten Gesichtsausdruck zur Schau gestellt, und die Befürchtung, ich könnte aus dem Fenster springen oder sonst etwas Unüberlegtes tun, hätte Frau Floranu davon abgehalten, dem Direktor Meldung zu erstatten.
»Zur Schau stellt man etwas, das nicht ernst gemeint ist«, betonte ich und drehte mich auf dem Absatz um.
Zu Hause erwarteten mich ein Zettel und ein
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