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Zusammen ist man weniger allein

Zusammen ist man weniger allein

Titel: Zusammen ist man weniger allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Gavalda
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Philibert Jehan Louis-Marie Georges Marquet de la Durbellière mit monotoner und blasierter Stimme die Äste seines Stammbaums aus und rühmte die kriegerischen Heldentaten seines noblen Geschlechts.
     
    Sein Urahne Karl mit Ludwig dem Heiligen gegen die Türken 1271, sein Ahne Bertrand in der Klemme in Azincourt 1415, sein Onkel Bidule bei der Schlacht von Fontenoy, sein Opa Ludwig auf der Uferböschung des Moine in Cholet, sein Großonkel Maximilian an der Seite Napoleons, sein Urgroßvater auf dem Chemin des Dames und sein Großvater mütterlicherseits Gefangener der Deutschen in Pommern.
    Mit unendlichen Details. Die Bälger waren mucksmäuschenstill. Französische Geschichte in 3D. Große Kunst.
     
    »Und das letzte Blatt am Baum«, schloß er, »steht hier vor Ihnen.«
     
    Er stand wieder auf. Weißhäutig und hager, nur mit einer Unterhose bekleidet, die mit Lilien bedruckt war.
    »Ich bin der Kerl, wissen Sie? Der immer seine Postkarten zählt.«
     
    Sein Page brachte ihm einen Soldatenmantel.
    »Warum?« fragte er sie. »Warum zum Teufel zählt der Nachkomme eines solchen Konvois wieder und wieder Papierfetzen an einem Ort, den er verabscheut? Nun, das will ich Ihnen sagen.«
     
    Und jetzt drehte der Wind. Er erzählte von seiner chaotischen Geburt, bei der er sich verkehrt angestellt hatte, »damals schon«, seufzte er, und seine Mutter sich weigerte, in ein Krankenhaus zu gehen, in dem auch Abtreibungen vorgenommen wurden. Er erzählte von seiner Kindheit, abgeschnitten von der Welt, in der man ihm beibrachte, gegenüber den einfachen Leuten den nötigen Abstand zu wahren. Er erzählte von seinen Jahren im Pensionat mit seinem Gaffiot als Speerspitze und den unzähligen Gemeinheiten, denen er ausgesetzt war, er, der über Kräfteverhältnisse nicht mehr wußte, als ihm die langsamen Bewegungen seiner Bleisoldaten gezeigt hatten.
    Und die Leute lachten.
     
    Sie lachten, weil es witzig war. Das Glas mit der Pisse, die Sticheleien, die Brille, die ins Klo flog, die Aufforderungen zum Masturbieren, die Grausamkeit der Bauernsöhne aus der Vendée und der fragwürdige Trost des Betreuers. Die weiße Taube, die langen Abendgebete, um denen zu vergeben, die einem weh getan hatten, und sich nicht in Versuchung führen zu lassen, und sein Vater, der ihn jeden Samstag fragte, ob er sich seines Standes würdig erwiesen und seinen Vorfahren Ehre gemacht habe, während er hin- und herrutschte, weil sie ihm wieder einmal den Schwanz mit Schmierseife eingerieben hatten.
     
    Ja, die Leute lachten. Weil auch er darüber lachte und weil man von nun an zu ihm hielt.
    Alles Prinzen.
    Alle hinter seinem weißen Federbusch.
    Alle bewegt.
     
    Er erzählte von seinen Zwangsvorstellungen und Obsessionen. Seinen Psychopharmaka, seinen Krankenscheinen, auf die sein Name nie ganz paßte, seinem Stottern, seiner Verwirrung, wenn sich seine Zunge verhedderte, seinen Panikattacken an öffentlichen Orten, seinen Zähnen, denen der Nerv gezogen wurde, seinem gelichteten Schopf, seinem schon leicht gekrümmten Rücken und allem, was er unterwegs verloren hatte, weil er in einem anderen Jahrhundert auf die Welt gekommen war. Aufgewachsen ohne Fernsehen, ohne Zeitungen, ohne Ausgang, ohne Humor und vor allem ohne das geringste Wohlwollen für die Welt um ihn herum.
     
    Er erteilte Anstandsunterricht, Benimmregeln, rief gute Manieren in Erinnerung und die Sitten und Gebräuche dieser Welt, wozu er das Handbuch seiner Großmutter auswendig aufsagte:
    »Generöse und feinfühlige Gemüter befleißigen sich in Anwesenheit des Gesindes niemals eines Vergleichs, der selbiges herabsetzen könnte. Zum Beispiel: ›Soundso benimmt sich wie ein Lakai.‹ Die Grandes Dames der damaligen Zeit zeugten nicht gerade von derartiger Sensibilität, werden Sie sagen, und ich weiß, daß eine Herzogin aus dem 18. Jahrhundert in der Tat ihre Leute bei jeder Hinrichtung mit den Worten zur Place de Grève zu schicken pflegte: ›In die Schule mit euch!‹
    Heute achten wir die Würde des Menschen und die berechtigte Empfindsamkeit der kleinen und einfachen Leute weitaus mehr. Dies gereicht unserer Zeit zur Ehre.
     
    Dennoch! fügte er bekräftigend hinzu, die Höflichkeit des Herrn gegenüber seinem Diener darf nicht zu gemeiner Vertraulichkeit verkommen. Zum Beispiel ist nichts vulgärer, als sich den Klatsch seiner Leute anzuhören.«
     
    Und wieder wurde gelacht. Auch wenn uns nicht zum Lachen war.
     
    Anschließend sprach er altgriechisch,

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