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Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sennett Richard
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wiederholt, während die Trauer eine Erzählung enthält, in der der Verlust eines Elternteils oder eines Geliebten schrittweise als unwiderruflich anerkannt wird. Die geliebte Person ist unwiederbringlich gegangen, und der Wunsch weiterzuleben kehrt zurück. In seiner klinischen Sprache schreibt Freud: »Die Realitätsprüfung hat gezeigt, daß das geliebte Objekt nicht mehr besteht … Das Normale ist, daß der Respekt vor der Realität den Sieg behält … Tatsächlich wird … das Ich nach der Vollendung der Trauerarbeit wieder frei und ungehemmt.« 11
    Gegen Ende des Ersten Weltkriegs fand Freud also in der Erfahrung der Trauer eine Möglichkeit, die natürlichen Rhythmen des Lebens, des Todes und des Weiterlebens darzustellen. Die Trauer vermag auch den Fall meiner Freundin zu erklären. Ihre Geliebte hatte sie verlassen und auch die gemeinsam adoptierten Kinder mit sich genommen. Mit der Zeit akzeptierte meine Freundin die Tatsache, dass sie gegangen waren. Auf einer anderen Ebene findet die Trauer auch Eingang in Chipperfields Neues Museum. Die schmerzvolle Geschichte der Stadt ist dem materiellen Baukörper eingeprägt und damit zu einem festen Objekt geworden, statt als dunkle Wolke darüber zu schweben. Freuds Unterscheidung vermag auch zu erklären, warum manche der von mir an der Wall Street befragten Arbeitslosen in Depression versanken, andere dagegen nicht. Wenn Freud – anders als die zahllosen Populärpsychologen, die von »Heilung« reden – recht hat, heilt das Gefühl des Verlustes niemals, sondern wird akzeptiert und damit eine eigenständige Erfahrung.
    Vor allem aber prägte Freuds Verständnis der Trauer seinen Glauben an die Arbeit. Die Arbeit fordert dazu auf, aus der eigenen emotionalen Geschichte herauszutreten und in die Welt zurückzukehren. Wenn man dieser Aufforderung folgt, kehrt auch die Moral in Gestalt persönlicher Energie zurück. Die physiologische und psychische Last fällt ab. Die Arbeit verspricht kein »Wohlbefinden«, sondern erneutes Engagement. Dabei handelt es sich allerdings nicht um ein soziales Engagement. Kooperative Aktivitäten spielen in Freuds Denken keine besondere Rolle.
    Wir können uns das Trauern als eine Art von Reparaturarbeit vorstellen. Die im siebten Kapitel erkundeten Reparaturformen erlauben hier eine Präzisierung. Freud betrachtete die traumatischen Erfahrungen nicht wie der Porzellanrestaurator eine zerbrochene Vase. Der Depressive, der wieder Anschluss an das alltägliche Leben zu finden versucht, weiß sehr wohl, dass er die Uhr nicht zurückdrehen kann. Ebenso ergeht es jedem Flüchtling, der das Exil gut übersteht. Gewiss trauert er um die Vergangenheit, aber er meidet den eisernen Griff der Nostalgie, wie Hannah Arendt es ausgedrückt hat, um anderswo ein zweites Leben zu beginnen. 12 Theologisch könnte man sagen, Adam und Eva wussten, dass sie nicht ins Paradies zurückkehren konnten. Trauer ist ein Umbau, der von innen her erfolgt.
    Diese Beobachtungen sind eine Möglichkeit, die Menschen zu verstehen, die Cabrini Green überlebt haben. Die mit Müll übersäten Straßen und die zerbrochenen Fensterscheiben der Wohnblocks, in denen sie aufwuchsen, waren für sie ein Übel, das sie weder tilgten noch verleugneten. Tatsächlich verbanden sie mit diesen Szenen auch durchaus positivere Gefühle. Dort hatten sie ihre Kindheit verbracht, hatten zwischen dem Müll gespielt, untereinander sinnlose Kämpfe ausgetragen und schließlich überlebt. Sie trauerten um das Ghetto ihrer Kindheit in der Art, wie Freud die Trauer beschrieb. Die Vergangenheit war in ihnen, sie war immer noch beunruhigend, aber sie beherrschte ihre Geschichte nicht länger. Das Trauma bestärkte sie nur in ihren Vorstellungen, wie sie ihr weiteres Leben führen sollten.

    Wir wollen nun ein Bild zeichnen, dass in deutlichem Gegensatz zu Freuds Vorstellung steht. Es gründet in dem klassisch-soziologischen Verständnis geringer Moral, das auf Émile Durkheim (1858–1917) zurückgeht und das die Rolle sozialer Institutionen und sozialer Kooperation bei der Wiederherstellung der Moral betont. Durkheim war eine Generation älter als Freud, und das hatte in diesem Fall durchaus Bedeutung. Der Krieg spielte in Durkheims Denken keine besondere Rolle. Die Institutionen, die Durkheim einer Analyse unterzog, waren die scheinbar auf unbegrenzte Dauer angelegten Fabriken, staatlichen Bürokratien und politischen Parteien Europas in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. In

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