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Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sennett Richard
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Und im Londoner East End befanden sich in den Wohnbezirken noch recht große Fabriken.
    Nisbet hoffte, die lokalen Tugenden ließen sich stärken, wenn man die Städte weiter verdichtete und wieder zu mehr Mischbebauung zurückkehrte. Dabei unterschätzte er den Einfluss jener Kräfte, die die Entmischung herbeigeführt hatten. Heute gelten uns diese machtvollen Einflüsse, die eine Autarkie lokaler Gemeinschaften immer unwahrscheinlicher erscheinen lassen, als offenkundige Tatsachen. 4 Der Einzelhandel wird heute in den meisten britischen Innenstädten von großen, nicht in der Stadt beheimateten Firmen beherrscht, und die Gewinne der Markenläden auf den Haupteinkaufsstraßen bleiben nicht in der Gemeinde. So blieben im Jahr 2000 von jedem in Harlem verdienten Dollar nur fünf Cent in Harlem. Kleine einheimische Geschäfte haben Schwierigkeiten, Kredite zu erhalten, vor allem bei Großbanken, und diese Firmen sind gezwungen, höhere Preise zu nehmen als etwa Walmart, so dass die Kunden wegbleiben. Diese verbreiteten Übel haben nach Ansicht der Stadtsoziologin Saskia Sassen dazu geführt, dass die Einzelhandelsökonomie heute so funktioniert wie einst die koloniale Ausbeutung von Bodenschätzen. Die in diesem Bereich generierten Gewinne werden exportiert. 5
    Die Hoffnung der sozialen Konservativen, den Sozialstaat durch ehrenamtliche Helfer vor Ort ersetzen zu können, kollidiert mit einer ähnlichen ökonomischen Tatsache. Wenn einer Kommune Geld entzogen wird, fällt es dort auch immer schwerer, Menschen für ehrenamtliche Tätigkeiten zu gewinnen. 6 Der Grund liegt auf der Hand: Die von finanziellen Kürzungen betroffenen Organisationen müssen ihre Angebote zusammenstreichen und »mit weniger mehr leisten«, wie das zugehörige Mantra lautet. Dann wird die Arbeit für die Helfer noch anstrengender. Ehrenamtliche Helfer werden abgeschreckt, und zwar nicht nur wegen des Drucks, sondern auch weil Hilfsorganisationen oder Graswurzelgruppen nicht die Arbeit leisten können, die man von ihnen verlangt. Die Leiter solcher Gruppen, ob bezahlt oder ehrenamtlich tätig, verwenden einen Großteil ihrer Zeit auf die Beschaffung von Spenden statt auf ihre eigentliche Aufgabe. Wenn Konservative wie Nisbet sich auf Tocquevilles Lob der ehrenamtlichen Tätigkeit berufen, übersehen sie, was Tocqueville in dem wohlhabenden Amerika, das er bereiste, so beeindruckte: In jeder Gemeinde gab es genug Geld, damit ehrenamtliches Engagement funktionierte und als erfolgversprechend empfunden wurde. Deshalb ist es meines Erachtens durchaus gerecht, wenn man David Camerons Idee der »Big Society«, wie Saskia Sassen dies tut, mit dem ökonomischen Kolonialismus vergleicht. Man entzieht den Gemeinden Geld und sagt ihnen dann, sie sollten die dadurch entstandenen Lücken durch eigene Anstrengungen schließen.
    Die entscheidende Frage für die Gemeinwesenarbeiter der sozialen Linken lautet deshalb, wie man Gemeinwesen stärken soll, deren ökonomisches Herz geschwächt ist. Dieses schwerfällig gewordene Organ lässt sich nicht auf lokaler Ebene wiederbeleben. Das mussten Gruppen wie ACORN oder DART erfahren, die sich in Amerika für ökonomische Gerechtigkeit einsetzen. Sie erkannten, dass sie zu nationalen Organisationen werden und den Weg der lokalen Vereinigungen verlassen mussten, an dem sich vor einem Jahrhundert die soziale Linke in Paris orientiert hatte. Gewiss akzeptieren manche die ökonomischen Tatsachen und betonen dennoch die Bedeutung der lokalen Gemeinde, zum Beispiel amerikanische, britische und holländische Anhänger des brasilianischen Erziehers Paulo Freire (1921–1997). Die von ihnen gegründeten Gruppen bestehen auf einer Reform der örtlichen Schulen als Ausgangspunkt für die lokale Mobilisierung der Menschen. 7 Sie wissen, dass die Armen an einer ökonomischen Verwundung leiden. Sie möchten, dass diese Menschen von ihrer Verwundung genesen, indem sie in einem anderen Bereich ihres Lebens einen Neuanfang wagen. Sie möchten erreichen, dass die Armen nicht in ihrer Schwäche verharren – ein schwieriges Unterfangen, weil sie im modernen Kapitalismus wahrscheinlich arm und marginalisiert bleiben werden. Wie lässt sich die Moral unter so schwierigen Bedingungen verbessern?

Moral

    Die Viktorianer waren in Fragen der Moral recht streng: »Reiß dich zusammen, hör auf zu jammern und mach dich an die Arbeit!« Im selben Geiste sagte mir der Rabbi der Synagoge in meinem Viertel: »Wenn mir metaphysische Zweifel

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