Zwanghafte Gier
Leuten klaute, die hart dafür gearbeitet hatten, war er sich zu jener Zeit gar nicht bewusst gewesen. Zu »echten« Räubereien ließ er sich jedoch nicht hinreißen. Er brach weder in Häuser oder Geschäfte ein, noch riss er alten Damen die Handtaschen weg. Beides kam ihm irgendwie falsch vor. Doch Autos, sagte er sich damals, waren bloß ein Haufen gut versichertes Blech ohne irgendeinen sentimentalen Wert oder individuellen Charakter – und vielleicht, sinnierte er Jahre später, hatte er schlicht seinen Hass unbewusst auf Autos übertragen, so wie sein Stiefvater ihm die Schuld für alles in die Schuhe geschoben hatte.
Schließlich rasten er und drei seiner Kumpel mit einem gestohlenen Jaguar V 8 in die Küche eines Bungalows in Burgess Hill. Wie durch ein Wunder brachten sie sich dabei nicht um – und auch nicht das Kleinkind, das nur ein paar Schritte von der Einschlagstelle entfernt gespielt hatte. Jude hätte es als ältestes Mitglied der »Gang« besser wissen müssen, und tatsächlich bekannte er sich in allen Punkten schuldig und empfand echte Reue. Doch auf dem Weg zum Gericht ging er in einen Pub, um ein wenig Mut zu tanken, und übertrieb es. Außerdem war es nicht seine erste Anklage, und Steve Ritchie hatte sich von ihm losgesagt; deshalb beschlossen sie, ein Exempel an ihm zu statuieren. Natürlich hatten sie alles Recht dazu – das glaubte Jude wirklich –, und in dem Augenblick, da sie ihn verurteilten, dachte er nur daran, dass er versagt und seine Mutter und seinen kleinen Bruder enttäuscht hatte.
Vor allem aber hatte er sich selbst enttäuscht.
Nie wieder.
Wirklich.
Daran hielt er im Jugendgefängnis fest, in das man ihn steckte, fest entschlossen, seine Strafe zu überstehen und was immer danach kommen mochte. Er hoffte, dass er noch nicht so tief gesunken war, dass er es nicht mehr schaffen konnte. Es sei alles nur eine Frage des Weitermachens, hatte einer der freundlicheren Wärter ihm kurz nach seiner Einlieferung gesagt. Er müsse den Kopf einziehen und das Beste aus den Angeboten im Knast machen, um nach der Entlassung einen möglichst guten Start zu haben.
Schon in der Schule war Jude gut im Malen und Zeichnen gewesen, und so half ihm nun die Kunst, die dunkelsten Augenblicke im Knast zu überstehen. Doch er wusste, dass er nicht außergewöhnlich talentiert war – und selbst wenn er sich so eingeschätzt hätte, besaß er genug gesunden Menschenverstand, um zu wissen, dass er nicht vom Malen leben konnte.
»Vielleicht könntest du ja doch malen«, hatte der Bewährungshelfer ihm vorgeschlagen. »Plakate bei Tag, Leinwände bei Nacht.«
»Ich weiß nicht«, hatte Jude erwidert. Er war nicht sicher gewesen, ob es ihm gefallen würde, Wände zu bemalen.
Das Bauhandwerk hatte ihn jedenfalls nicht angesprochen, und anstelle von Bauarbeiten hatte er sich dem Gärtnern zugewandt. Doch eines Tages in Lewes, kurz nach seiner Entlassung, kam er an einer Baustelle in der Nähe seiner Unterkunft vorbei und sah einen jungen Mann, der Beton mit einem Vorschlaghammer zertrümmerte. Vielleicht war es ja nur Spinnerei, vielleicht das Künstlerauge – in jedem Fall schien das, was der Mann tat, irgendwie Spaß zu machen. Die körperliche Anstrengung, die schiere Kraft ... Es sah wie jene Art explosiver Kraftentfaltung aus, wie man sie erlebt, wenn man so schnell rennt, wie man nur kann, und das so weit, dass man plötzlich anhalten muss , um Luft zu holen.
Jude war ein paar Minuten stehen geblieben, um dem Mann bei der Arbeit zuzuschauen. Er beobachtete, wie der Mann sich konzentrierte und einen gleichmäßigen Rhythmus beibehielt. Vermutlich hatte er lange üben müssen, um den Hammer auf solch natürliche Art zu schwingen und abschätzen zu können, wozu sein Körper in der Lage war, ohne schlapp zu machen.
Jude beneidete ihn darum und wollte das auch können.
»Hört sich an, als hätte der Mann zu einem Abrisstrupp gehört«, hatte Judes Bewährungshelfer bemerkt. »Eigentlich hätte ich dich eher als schöpferisch eingeschätzt, nicht als zerstörerisch.«
»Jaja, was auch immer«, hatte Jude sorglos erwidert, doch am nächsten Tag war er wieder zu der Baustelle gegangen, hatte noch ein wenig länger zugeschaut, den Vorarbeiter gesucht und diesen schließlich überredet, ihm einen Bauhelm zu geben, sodass er die Arbeiten aus größerer Nähe verfolgen konnte. In der Mittagspause hatte er dann mit den Arbeitern gequatscht.
Drei Jahre später, nach mehreren Lehren und mit einem
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