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Zwanghafte Gier

Zwanghafte Gier

Titel: Zwanghafte Gier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Norman
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haben«, hatte Steve Ritchie gesagt, »rate ich dir, nach Billy Brown zu suchen.«
    Dann hatte er ihn allein gelassen.
    Und Jude hatte gehorcht. Er hatte in dem Raum gestanden, allein mit Carol und Scott, und war zuerst versucht gewesen, sie nicht anzuschauen. Dabei hatte er gewusst, dass er es tun musste.
    Und falls er geglaubt haben sollte, die beiden schrecklichsten Augenblicke in seinem Leben bereits erlebt zu haben – Scott direkt nach dem Unfall in der Einfahrt und seine Mutter, erhängt in der Garage –, erwartete ihn hier etwas noch viel Schlimmeres.
    Das sind sie nicht , sagte er sich. Das sind nicht wirklich sie.
    Aber sie waren es, und das wusste er. Das hier war alles, was von ihnen übrig geblieben war. Und bald würde man die Deckel auf die Särge schrauben, und er würde für immer wissen, dass sie tatsächlich in diesen Kisten lagen, tief unten in der Erde, wo sie vor sich hin faulten. Und er wusste nicht, ob er das ertragen, damit würde leben können.
    Ritchie hatte gesagt, er sei dafür verantwortlich.
    »Das bin ich nicht«, sagte er zu seiner Mutter. »Sag mir, dass ich es nicht bin.«
    In der Kiste sah sie wie eine lebensgroße Puppe aus. Ihr Hals war mit einem weißen Spitzenkragen bedeckt. Er gehörte zu einer Art Nachthemd, von dem Jude glaubte, dass sie es sich niemals selbst ausgesucht hätte, denn Carol hatte T-Shirts gemocht. Nur manchmal hatte sie kurze, hübsche Nachttops angezogen, die ihre Arme und Beine gezeigt hatten, und ...
    »Es tut mir leid«, sagte Jude.
    Dann schaute er zu Scott, und das war noch viel schlimmer, denn er war viel kleiner als Carol, und er sah so ... unversehrt aus, beinahe so, als würde er schlafen, aber das war nicht real. Scott sah einfach nicht real aus, eher wie eine Bauchrednerpuppe. Sein kleines, süßes, totes Gesicht war wie aus Wachs, und ...
    »Ich hab nicht geplappert«, sagte er seinem Bruder, und das stimmte. Er hatte wirklich nicht geplappert, aber er war mit seiner Mutter im Wagen gewesen, also hatte Ritchie in gewisser Weise recht. Hätte er nicht im Auto gesessen, hätte seine Mutter nicht geredet.
    »Es tut mir leid«, flüsterte Jude nun auch zu Scott ...
    ... zu Scott, der dort einfach in seinem Sarg lag, weder tadelnd noch tröstend, und Jude zwang sich, das unnatürliche Gesicht zu betrachten und dann wieder zu seiner Mutter zu blicken, und plötzlich erbebte sein Körper, so unerträglich war der Anblick für ihn. Es fuhr ihm von den Zehen bis in die Fingerspitzen, drehte ihm den Magen um und zog ihm das Herz zusammen, und er stieß einen lauten Schrei der Qual aus und rannte zur Tür.
    Er versuchte, sie zu öffnen ...
    ... und stellte fest, dass es nicht ging.
    Und dann fing er zu schreien an.
    Danach war es lange Zeit bergab mit ihm gegangen. Als junger Teenager hatte Jude mit dem Trinken angefangen, und ohne nennenswerte elterliche Führung – Ritchie hatte erkennen müssen, dass er rechtlich verpflichtet war, seinem Stiefsohn Obdach und Essen zu gewähren; aber das war’s dann auch, bis Jude sechzehn war, sodass er ihn hinauswerfen konnte – ohne elterliche Führung hatte Jude sich seine Freunde gesucht, wo er sie gerade finden konnte. Er vermisste Carol und Scott mehr, als er zu sagen vermochte. Er vermisste seine Familie, die Normalität und ein reine, von Schuld freie Seele, und wenn die härteren Kids in der Schule und den Einkaufszentren bereit waren, Zeit mit ihm zu verbringen, ihn sogar zu mögen schienen, war das Balsam für seine von schrecklicher Einsamkeit geplagte Seele. Doch ein Teil seines Geistes – jener T e i l, d e r n o c h v o n früher überlebt hatte, der glückliche, sorglose Teil – warnte ihn, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er Ärger bekam. Der Rest jedoch – der verzweifelte, verlorene Teil – sagte ihm: Ist doch scheißegal, sowohl für dich wie für alle anderen.
    Der einzige Grund, warum alles nicht noch viel schlimmer geworden war, war vermutlich darin zu sehen, dass Jude sich rigoros geweigert hatte, Drogen anzurühren. Er hatte das Zeug instinktiv gehasst und von Anfang an nichts damit zu tun haben wollen.
    Trotzdem war es noch schlimm genug. Er knackte Autos, um mit seinen Kumpels eine Spritztour zu unternehmen, und schüttete sich weiter Alkohol in den Hals – hirnloses Zeug eben, aber nichts Großartiges. Dabei sagte Jude sich immer wieder, dass er das brauche, um über die Wut und den Schmerz hinwegzukommen, die damals einfach nicht hatten enden wollen. Dass er die Autos von

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