Zwanghafte Gier
Ritchie, den Carol Brown geheiratet hatte, als Jude sechs Jahre alt gewesen war. Sein eigener Vater, Billy Brown, hatte sich eine Woche nach Judes Geburt verpisst, weil er sich – so Carol – wegen des Namens mit ihr zerstritten hatte.
Jude the Obscure von Thomas Hardy war eines der wenigen Bücher gewesen, die Carol in der Schule geliebt hatte, und seit damals hatte sie den Namen stets im Hinterkopf gehabt und nur auf die Gelegenheit gewartet, ihn ihrem eigenen Kind zu geben. Billy wiederum hatte noch nie von dem Buch gehört, und soweit es ihn betraf, war der Name schlicht die Kurzform von Judas. Außerdem hatte er Carols Launen einfach nur satt und von der Ehe allgemein die Nase voll.
»Er hat schon lange nach einem Weg da raus gesucht«, hatte sie Jude erklärt, als er neun oder zehn gewesen war. »Aber solange ich schwanger war, hat er es nicht für richtig gehalten, mich zu verlassen. Als dann aber der Streit über deinen Namen außer Kontrolle geriet, war’s das.«
»Hättest du mich nicht einfach anders nennen können?«, hatte Jude sie gefragt.
»Warum?« Carol hatte ihn verärgert angeschaut. »Magst du den Namen etwa auch nicht?«
»Natürlich mag ich ihn«, hatte Jude geantwortet, denn er hasste es, wenn seine Mutter sich ärgerte, auch wenn ihm die Vorstellung gefiel, einen Vater zu haben – einen eigenen Vater.
Andererseits hatte Billy Brown nie auch nur versucht, mit ihm in Verbindung zu treten. Er hatte ihm nicht eine Geburtstagskarte geschickt, und da Jude wusste, wie sehr seine Mutter sich bemühte, ihm ein glückliches Leben zu bescheren, akzeptierte er, dass es vielleicht sogar besser so war. Selbst nach ihrer Hochzeit mit Steve Ritchie, den Jude nie wirklich gemocht hatte, der aber seine Mutter zu lieben schien, war das Leben daheim recht gut gewesen, besonders nach der Geburt von Scott, seinem kleinen Bruder.
Jude erinnerte sich daran, gehofft zu haben, dass Billy Brown zur Doppelbeerdigung seiner Mutter und seines Bruders erscheinen würde; doch er war nicht gekommen. Stattdessen hatte Steve Ritchie – der seit Scotts Tod kaum ein Wort mit seinem Stiefsohn gewechselt hatte – Jude am Morgen seines letztens Besuchs im Beerdigungsinstitut mitgeschleppt und darauf bestanden, dass er Carol und Scott auf seine eigene Art Lebewohl sagte.
Zu diesem Zweck wollte Ritchie ihn mit den beiden offenen Särgen allein lassen.
»Lass mich nicht allein«, hatte Jude gesagt, vor Angst und Trauer wie benommen.
»Warum nicht?«, hatte Ritchie gefragt. »Ist das zu viel für dich, Junge?«
Jude hatte nichts darauf geantwortet, hatte seinen Stiefvater nur angestarrt.
»Das ist nur ein bisschen ...« Ritchies blaue Augen funkelten vor Hass. »Das ist nur ein winzig kleines bisschen von dem, was du verdienst, du dummer kleiner Bastard.«
»Wofür verdient?« Jude war vollkommen verwirrt gewesen.
»Wofür?«, hatte Ritchie geechot. »Weil du das zu verantworten hast, dafür.«
Jude hatte wieder geschwiegen.
»Du hast immer im Wagen geplappert, immer , und ich habe dir immer wieder gesagt, du sollst den Mund halten, weil der Fahrer sich konzentrieren muss, und du hast gewusst, dass deine Mutter nicht gerade die tollste Fahrerin war, aber du konntest ja nicht anders, nicht wahr? Du musst ja immer im Mittelpunkt stehen.«
Das stimmte nicht. Jude wusste, dass es nicht stimmte, glaubte , dass es nicht stimmte, betete , dass es nicht stimmte. Aber vielleicht stimmte es ja doch, und so hatte er in diesem schrecklichen Raum gestanden, hatte versucht zurückzudenken, versucht, es nicht zu tun, und war kaum in der Lage gewesen, in die geröteten Augen seines von Zorn und Trauer erfüllten Stiefvaters zu blicken. Doch er wusste auch nicht, wo er sonst hätte hinschauen sollen; nichts in diesem Raum konnte er ertragen. Also schloss er die Augen und bedeckte sie mit den Händen.
»Ich hoffe, du bist zufrieden mit dir ...« Ritchie hatte immer weitergemacht. Er konnte einfach nicht mehr aufhören. Die Worte sprudelten aus ihm hervor wie heiße Lava, und es kümmerte ihn nicht im Geringsten, welche Wirkung sie auf Jude hatten. »Nun, da du meiner Frau und meinem Jungen das angetan hast, bist du hoffentlich zufrieden mit dir.«
Dann hatte er Judes Hände gepackt und sie ihm von den Augen gerissen.
»Schau sie an, Junge. Schau dir an , was du deiner Mutter und deinem Bruder angetan hast.«
Jude hatte zu den Särgen geblickt.
»Und für den Fall, dass du hoffen solltest, nach alledem noch einen Vater zu
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