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Zwanghafte Gier

Zwanghafte Gier

Titel: Zwanghafte Gier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Norman
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und da war ihr Gesicht, ihre blauen Augen und ihr weiches, jungenhaft geschnittenes, dunkles Haar.
    Und dann war da auch Scott.
    Ich komme , sagte er zu seinem Bruder und gab auf ...
    Und dann berührte sein linkes Knie etwas, und Jude öffnete die Augen.
    Selbst hier unten, unterhalb der Wasseroberfläche, wurde es vom Blitz erhellt.
    Es.
    Der schlimmste Anblick, den er je gesehen hatte.
    Der schlimmste .
    Hätte er nicht schon kurz vor dem Ertrinken gestanden, wären seine Lungen nicht bereits voller dickem, schwarzem, salzigem Kanalwasser gewesen – Jude war sicher, der Schreck hätte ihn umgebracht.
    Doch es zu sehen, ihn zu sehen – Jude glaubte, dass es ein Mann gewesen war –, verlieh ihm plötzlich neue Kraft, als wäre eine Art Notstromgenerator in seinem Innern angesprungen. Wie von einem elektrischen Schlag fuhr neue Kraft in seine Glieder, genug, um ihn mit den Beinen treten zu lassen und mit den Armen zu rudern ... genug, um ihn nach oben zu katapultieren, nach oben . Entschlossen kämpfte er gegen die Strömung und das alles zermalmende Gewicht des Wassers an.
    Dann durchbrach sein Kopf die Wasseroberfläche. Jude war wieder in der Welt, der Nacht, und er öffnete den Mund und versuchte zu atmen, doch er konnte nicht. Er würgte; er ertrank noch immer, und er wurde wieder schwächer, doch dann stieß dieses Etwas – dieses Ding , dieser einstige Mensch – gegen seinen Unterleib.
    Jude schrie, und das Schreien machte den Weg frei für die Luft.
    Das Ding berührte ihn erneut. Etwas Weiches drückte gegen ihn.
    Jude schrie und schrie und paddelte Richtung Ufer.
    Richtung Land.

103
    »Und was jetzt?«, fragt Bo Frankie.
    Sie beobachtet, wie er an seinem linken Auge herumtastet, wo Judes Schlag ihn getroffen hat. Die Haut leuchtet bereits in allen Farben.
    Bo war vor einiger Zeit zurückgekommen, völlig durchnässt und schlammbedeckt. Er hatte die Tür hinter sich zugeschlagen und kein Wort für sie übrig gehabt, nur einen Blick voll heißer Wut, bevor er nach oben gegangen war und eine weitere Tür zugeschlagen hatte. Unten im Flur hörte Frankie die Dusche in Roz’ Badezimmer laufen – nein, ihrem Badezimmer – nein, es ist jetzt Bos Badezimmer. O Gott, wie sie das hasst. Aber vielleicht, dachte Frankie in diesem Augenblick, entwickelt er nun wenigstens ein bruchstückhaftes Verständnis dafür, was es bedeutet, gründlich sauber zu sein. Nach allem, was er getan hatte, nach dem, was er getragen hatte, fühlte offenbar selbst er sich schmutzig.
    Nun ist er wieder unten im Wohnzimmer. Sein Haar ist noch immer nass von der Dusche. Er trägt einen schwarzen Jogginganzug, und er hat Frankie gerade von Jude erzählt. Frankie genügt ein Blick in sein angespanntes Gesicht und seine noch immer gehetzten Augen, um zu erkennen, dass schon der Blick unter den Wintergartenboden ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte, und nun ist er weit jenseits davon.
    »Warum hast du dir ausgerechnet diese Stelle ausgesucht, um ihn loszuwerden?« Ihr ist übel, doch ihre Neugier kann sie nicht unterdrücken.
    »Ich habe sie mir nicht ausgesucht , du dumme Kuh«, antwortet Bo. »Ich war bloß angepisst, weil ich keinen geeigneten Ort gefunden habe. Man sollte glauben, das sei leicht, aber das ist es nicht. Wenn du eine Leiche über die Klippen wirfst, kannst du nicht sicher sein, dass sie tatsächlich im Meer landet, und die flachen Strände an der Küste sind viel zu dicht bebaut. Bungalows voller alter Leute, die nicht schlafen können und hinter ihren Vorhängen alles beobachten.«
    »Und du hast gewusst, dass er dich verfolgt hat«, sagt Frankie leise.
    »Zu dem Zeitpunkt habe ich es gewusst«, sagt Bolin. »Dieser dumme Bastard.«
    Frankie weiß, dass das Ganze vermutlich ein Spiel für ihn gewesen ist. Sie weiß, dass er vielleicht Angst hatte; aber er hatte es sicherlich auch genossen, mit Alex’ Freund zu spielen und ihn zu quälen. Für ihn im Truck war es sicher leicht gewesen, an den Kanal zu kommen, aber nicht für Jude zu Fuß.
    Der arme Kerl.
    »Und was jetzt?«, fragt Bolin erneut. »Was sollen wir tun, verdammt noch mal?«
    Frankie antwortet nicht darauf. Sie wagt es nicht.
    »Ich werde dir sagen, was wir jetzt tun werden«, sagt Bo in düsterem Tonfall. »Wegen dir bin ich jetzt ein gottverdammter Mörder.«

104
    »Und was jetzt?«, fragte Jude sich selbst und alles und jeden, die ihm in dieser gottverlassenen Nacht zuhören mochten, die einem Roman von Stephen King hätte entsprungen sein

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