Zwanghafte Gier
hatte und wieder im Fahrerhaus saß. Bis er wieder rückwärts von der Böschung gefahren war, diesmal ohne stecken zu bleiben.
Bis der Toyota gewendet und die Rückfahrt angetreten hatte. Erst durch das mit Draht bespannte Tor, das er vor nicht allzu langer Zeit einfach umgefahren hatte, dann durch das nächste, das Eisentor, und wieder auf die gewundene Betonstraße.
Zurück zur Zivilisation.
Jude wartete, bis die Rücklichter in der Dunkelheit verblassten, und dann wartete er noch einmal mehrere Minuten. Zuerst war er fast blind. Die Wagenscheinwerfer waren beinahe grell gewesen in der Schwärze, und so dauerte es eine Weile, bis Jude wieder richtig sehen konnte.
Schließlich richtete er sich auf die Knie auf und stöhnte – Gott, ihm war noch kälter, und er war nasser als zuvor; es war kaum zu glauben. Dann stand er auf.
Er machte sich auf den Weg zu der Stelle, wo Bolin gestanden hatte. Die Räder des Wagens hatten das Gras platt gedrückt, und es war höllisch rutschig. Gras, Blätter und Schlamm vereinigten sich zu einem gefährlichen Gemisch, und sollte er so nah am Ufer ausrutschen ...
Jude trat so fest auf, wie er konnte. Seine Stiefel waren ruiniert. Sie waren für Bürgersteige gedacht, nicht zum Wandern. Vorsichtig beugte er sich vor und spähte nach unten, doch er sah nichts außer einer sich schnell bewegenden Schwärze. Hier konnte er nun auch das Meer hören. Es war zwar noch ein gutes Stück entfernt, doch Jude konnte sich seine Wildheit durchaus vorstellen.
Vergiss das Meer.
Instinktiv tastete er nach dem Handy in seiner Tasche. Er war fast bereit, die Polizei anzurufen; er brauchte nur noch etwas Handfesteres, das er ihnen zeigen konnte.
Such weiter.
Der Sturm kam ihm zu Hilfe. Ein weiterer Blitz tauchte das Wasser für einen Moment in gleißendes Licht. Jude sah, dass der Kanal gut zehn Meter breit war, und er schien tief zu sein – sehr tief sogar aufgrund des Regens.
Und Jude sah auch, dass das Bündel spurlos verschwunden war ... was immer es gewesen sein mochte.
Einfach weg.
Es zurückzuholen war hoffnungslos.
Diese ganze Nacht, dieser Wahnsinn ... für nichts.
Jude wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte.
Er dachte an den langen Marsch zurück zum Parkplatz.
Weinen war wohl die bessere Idee.
Es ist sinnlos.
Jude ließ für einen Moment die Schultern hängen; dann richtete er sich wieder auf, drehte sich um, richtete den kleinen, aber hellen Strahl seiner Taschenlampe auf den Boden zu seinen Füßen und machte sich vorsichtig an den Abstieg. Der Wind nahm wieder zu und rauschte laut in Judes Ohren, während der Regen ihm schräg ins Gesicht peitschte. Zitternd drückte er das Kinn auf die Brust.
Jude sah ihn nicht und hörte ihn nicht, bis es zu spät war.
Bolin.
Er war keinen Meter entfernt links von ihm, und Jude sah, dass er genau das Gleiche gemacht hatte wie er selbst kurz zuvor: Er war ein paar Meter entfernt die Böschung hinaufgeklettert und hatte auf den richtigen Moment gewartet.
»Du musstest wohl unbedingt deine Nase da reinstecken, was?«, sagte Bolin.
Wieder zuckte ein Blitz über den Himmel, und Jude sah den Arm kommen, sah den Stein in Bolins Hand gerade noch rechtzeitig, um sich zu ducken. Der Stein traf Jude an der linken Schulter – wuchtig genug, dass er vor Schmerz aufschrie, und er hatte keine Waffe, nur seine Fäuste; also schwang er die rechte und landete einen Treffer an Bolins linkem Auge.
»Du Arsch!«, knurrte Bolin. Er hielt noch immer den Stein in der Hand, und als er diesmal damit zuschlug, zielte er besser.
Der Schlag, der Jude an der linken Schläfe traf, war lauter als der Donner, der ihm eine Sekunde vorausgegangen war ... und dann, für ein, zwei Augenblicke, konnte er nichts mehr hören, war völlig taub. Er fühlte nur, dass er fiel, dass er zu Boden ging, und er sah, wie Bolin auf ihn zukam. Jude spürte, wie er halb hochgehoben, halb über die rutschige Böschung geschleppt wurde, zurück zum Kanal, und es gab nichts, was er hätte tun können. Er war viel zu benommen, um Widerstand zu leisten.
»Ab mit dir, du Schwuchtel«, sagte Bolin.
Und er stieß Jude über den Rand.
Ins Wasser.
Jude war noch immer bei Bewusstsein, als das Wasser sich wie eine schwarze eisige Decke über ihn schob und ihn nach unten zog. Es drang ihm in Mund und Nase, strömte ihm in die Kehle und drohte ihn zu ersticken.
Ihn zu ertränken.
Alex , dachte er.
Er hatte die Augen zum Schutz vor dem Salz geschlossen, das vom Meer hereindrang,
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