Zwanghafte Gier
ich auf der Baustelle in Brighton gearbeitet habe – mit der Schwuchtel –, wollte ich mir eines Tages am Churchill Square ein Paar Stiefel kaufen. Da habe ich dich dann gesehen.«
Frankie erinnert sich daran, dass sie ihn bei Clarks hatte herauskommen sehen.
»Du hast so anders ausgesehen, dass ich es kaum glauben konnte.« Bo schüttelt den Kopf. »Also bin ich dir gefolgt, habe dich hier reingehen sehen und hab mir gedacht: Sie macht hier sauber. Das hätte zu dir gepasst, doch du bist nicht wieder rausgekommen, wie du’s eigentlich hättest tun sollen ... ein paar Tage lang nicht.«
»Du hast mich die ganze Zeit beobachtet?« Die Vorstellung machte Frankie glücklich, flößte ihr zugleich aber Angst ein.
»Also habe ich mir gedacht, Scheiße, sie hat sich einen reichen Kerl geangelt – nur dass weit und breit kein Kerl zu sehen war. Und dann bist du wieder rausgekommen und zur Falmer Road gegangen, um für diese Levin zu arbeiten, und du hast wieder ganz normal ausgesehen: schlicht, gewöhnlich ... wie eine Putzfrau eben. Da habe ich mir dann überlegt: Was spielt Frankie jetzt wieder für ein Spiel?« Abermals schüttelte Bo den Kopf. »Und jetzt weiß ich es ... mehr oder weniger jedenfalls, nicht wahr? Tatsächlich weiß ich mehr, als mir lieb ist, sehr viel mehr.«
109
Bei Tagesanbruch kam Jude wieder zu sich. Mit dem Gesicht nach unten lag er in nassem Schlamm, Blättern und Gras. Er hustete einen Teil des Drecks aus, der ihm in Mund und Hals gedrungen war ... und dann erinnerte er sich.
Er wünschte, er hätte es nicht getan.
Er wünschte bei Gott, dass das alles nur ein Traum gewesen war.
Doch als er den Kopf hob und nach rechts blickte, sah er sämtliche Beweise, die er brauchte, um zu wissen, dass dem nicht so war.
»Und was jetzt?«, fragt er sich laut und versuchte aufzustehen, doch der Schmerz in seinem Kopf, seiner Schulter, seinem Rücken und nun auch in seinen Armen brannte wie Feuer – was man vom Rest seines Körpers nicht gerade sagen konnte.
Gott, war ihm kalt.
Jude schaute auf seine Uhr, aber die zeigte halb fünf, was – so vermutete er – die Zeit war, als Bolin ihn niedergeschlagen und ins Wasser geworfen hatte.
Wenigstens war es nicht mehr dunkel. Für ihn, als typischen Frühaufsteher, sah es tatsächlich so aus, als wäre es schon länger hell. Auch das Unwetter hatte sich verzogen, und die Luft war frisch und sauber.
Das kannst du ein andermal genießen.
Es gelang Jude, sich aufzusetzen – und selbst das war verdammt schwer. Er fühlte sich benommen, ihm war übel, seine Zähne klapperten, und die Feuchtigkeit auf seiner Haut verbunden mit dem Eis in seinen Knochen bescherte ihm noch mehr Kopfschmerzen.
»Komm schon«, trieb er sich selbst an.
Zeit, den Toten liegen zu lassen und Hilfe zu holen.
Wenigstens dieser Gedanke ergab einen Sinn, da Jude zum einen nicht wusste, wie viel Kraft er noch hatte; zum anderen würde er wahrscheinlich jeden Beweis zerstören, der geblieben war, sollte er auch nur noch einmal versuchen, die Leiche zu bewegen.
Er musste zurück zum Wagen, durch die Albtraumlandschaft der letzten Nacht, und ein Telefon finden.
»Kleinigkeit«, sagte er.
Jude versuchte aufzustehen, rutschte aus und fiel.
Und verlor erneut das Bewusstsein.
110
»Tut mir leid, dass ich nicht rangehen kann«, sagte Judes Stimme zu Alex, »aber legen Sie nicht auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Danke.«
»Ich bin’s noch mal«, sagte Alex. »Ich wollte dir nur sagen, dass wir hier im Haus sind. Ich hoffe, mit dir ist alles in Ordnung.« Sie hielt kurz inne. »Ruf mich an, Jude. Bitte.«
Kurz nach neun waren sie am Melton Cottage angelangt, und Alex hatte Suzy hineingeholfen, bevor sie die Nachrichten auf dem Anrufbeantworter abgehört und noch einmal versucht hatte, Jude anzurufen, sowohl in seiner Wohnung als auch auf seinem Handy. Doch obwohl sie versuchte, seine unerklärliche Abwesenheit auf die leichte Schulter zu nehmen, spürte sie einen Knoten im Magen. Einer der vielen Vorzüge ihrer Beziehung war schon frühzeitig die Leichtigkeit gewesen, mit der sie in regelmäßigem Kontakt gestanden hatten. Jude rief sie oft an, wenn er eine Pause hatte, und hinterließ kurze, liebevolle Nachrichten auf ihrer Mailbox, und nie hatte es ihm etwas ausgemacht, wenn sie das Gleiche tat. Stets hatte er gesagt, er liebe es, ihre Stimme zu hören.
Kurz gesagt, war es einfach nicht seine Art, wortlos zu verschwinden.
»Vermutlich hat er sein Handy nur zu Hause
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